Süddeutsche Zeitung

Pisa 2015 in Asien:Lernen, Lernen und noch mehr Lernen

  • Am Dienstag, 6. Dezember 2016, erscheint die neue Pisa-Studie mit Schwerpunkt Naturwissenschaften.
  • Seit Jahren belegen asiatische Länder in Schulvergleichstests die vorderen Plätze.
  • Um Top-Leistungen zu bringen, betreiben die Schüler in Ländern wie Japan und Südkorea einen riesigen Aufwand - und haben kaum Freizeit.

Von Christoph Neidhart, Tokio

Saya ist eben 18 geworden, seit einem Jahr büffelt sie jeden Abend bis 22 Uhr in der "Juku" für das nationale Universitäts-Eintrittsexamen, auch am Wochenende. Am Morgen steht sie oft um fünf Uhr auf, um vor ihrer normalen Schule den Stoff einzuüben. "Juku" nennen die Japaner ihre Nachhilfeschulen. Ohne sie schaffe man es nicht an eine ordentliche Universität, sagt Sayas Vater, schon gar nicht an eine staatliche, deren Studiengebühren viel niedriger sind. Für Saya war es nie eine Frage, ob sie sich die Juku antue, auch alle ihre Freundinnen gehen hin.

Der Vater hatte Saya in eine private Mittelschule geschickt, weil sie in der öffentlichen zu wenig lerne, wie er sagt. Das kostet ihn fast 1000 Euro im Monat, dazu kommen 500 Euro für die Juku. Obendrauf noch die Gebühren für Übungsexamen. Weil auch Sayas Bruder in eine private Schule und in die Juku geht, verdoppeln sich die Ausgaben. In Japan besuchen viele Kinder schon als Grundschüler eine Juku, vor der Eintrittsprüfung in die Mittelschule fast alle. Manche fangen sogar schon im Kindergartenalter damit an, um vor der Einschulung bereits lesen zu lernen und Multiplikationsreihen zu pauken.

Japan und Südkorea gehören zusammen mit China und Singapur zu jenen Ländern, die in der Pisa-Studie regelmäßig Spitzenplätze belegen. Viele Japaner nehmen dies zwar stolz zur Kenntnis, sie neigen zur Annahme, ihre Methoden seien überlegen.

Losgelöst vom internationalen Vergleich klagen japanische Eltern jedoch über Nippons Schulen. Selbst in der Privatschule lernten seine Kinder zu wenig, schon gar nicht, selbständig zu denken, meint Sayas Vater, der selber in den USA ein Master-Studium absolvierte. Im Englischunterricht zum Beispiel werde nur Grammatik gebüffelt, und die Klassen seien zu groß. Weil oft Schüler gemobbt werden, ist es das wichtigste Ziel der Kinder, nicht aufzufallen. Schon gar nicht als Streber. Und da kaum je jemand sitzen bleibt, arbeiten die Schüler wenig. Sie pauken erst im Hinblick auf die nächste Eintrittsprüfung, und das vor allem in der Juku: erst für die Sekundarstufe, dann für die obere Mittelschule und schließlich für die Uni. Dabei wird vor allem auswendig gelernt.

Im Vergleich zum OECD-Durchschnitt knausert der japanische Staat bei der Bildung, vor allem bei den Grundschulen. Nippons Lehrer werden nach jenen in Ungarn und Griechenland OECD-weit am schlechtesten bezahlt. Wenn Japan auch dieses Jahr in der Pisa-Studie gut abschneidet, dann dank der Eltern, die viel in die Ausbildung ihrer Kinder stecken, dank der Schüler selbst, die dafür jede Freizeit opfern (müssen) und dank der Disziplin, in welche die Schulen sie früh gezwungen hat. Der Gruppendruck sorgt dafür, dass fast alle Jugendlichen in die Juku gehen.

In Südkorea heißen die Juku "Hagwon", sie beanspruchen noch mehr Zeit der Jugendlichen als die Nachhilfeschulen in Japan. Südkoreas Eltern zahlen jährlich 18 Billionen Won, 14,5 Milliarden Euro, für die außerschulische Ausbildung ihrer Kinder - 0,8 Prozent der Wirtschaftsleistung ihres Landes. Der Ansturm auf die angesehensten der 80 000 Hagwon ist so groß, dass diese Aufnahmeprüfungen veranstalten. In den letzten Jahren sind deshalb Hagwon entstanden, die Kinder auf die Aufnahmeprüfung einer Elite-Hagwon drillen.

Als der Erziehungsminister verfügte, die Hagwon müssten spätestens um 22 Uhr schließen, setzten Regionalverwaltungen das nicht um, weil ehrgeizige Eltern aufbegehrten. In der Nachbarschaft prominenter Hagwon sind sogar die Immobilienpreise höher. Das Leben mancher Mütter dreht sich nur um das Lernen ihres Sohnes.

Ziel des jahrelangen Büffelns ist das "Suneung", die nationale Uni-Aufnahmeprüfung jeweils am zweiten Donnerstag im November. Das ganze Land fiebert mit. Mehr noch als in Japan lernen die jungen Koreaner nicht fürs Leben, sondern für eine einzige Multiple-Choice-Prüfung, die ihr ganzes Leben prägen wird. Ein Top-Resultat öffnet ihnen das Tor zu einer Top-Uni; und die Top-Unis sind das Sprungbrett zu einem Job beispielsweise bei Samsung.

Die Wertschätzung der Bildung gilt in Korea als "typisch koreanisch", seine Historiker betonen, die älteste öffentliche Schule im Land sei bereits im 4. Jahrhundert n. Chr. eröffnet worden: für die Söhne des Yangban, des landlosen Adels. Die Lehrer waren hoch angesehen, auch Konfuzianismus und Buddhismus hielten die Bildung hoch. Als Gutenberg den Buchdruck erfand, druckten die Koreaner bereits farbig. Und welch anderem Land hat ein König die Schrift geschenkt? Im 15. Jahrhundert ließ Sejong der Große die Buchstabenschrift Hangul entwickeln, die zwei oder drei Zeichen zu Silbenblöcken zusammensetzt - sie soll das logischste Schreibsystem überhaupt sein. Nach der Überlieferung hat der "König der Wissenschaften" die Schrift zusammen mit seinen Gelehrten selber entworfen.

Aber der Yangban war eine kleine Oberschicht, die bis ins 20. Jahrhundert die Schrift ihres Königs ignorierte. Die Elite schrieb in chinesischen Zeichen, die erst 1948 abgeschafft wurden. Die meisten anderen Koreaner waren analphabetische Bauern, 1945 konnten nur 22 Prozent der Menschen lesen. In den Jahrzehnten des wirtschaftlichen Aufschwungs zogen viele Menschen in die Städte und schickten ihre Kinder in höhere Schulen, damit es ihnen einmal besser gehe.

Dazu kommen, stärker noch als in Japan, Disziplin, Konformitätsdruck, und eine scharfe "Konkurrenz", so der Psychologe Suh Eun-kook. Der Glücksforscher an der Yonsei-Uni in Seoul hält Südkorea für eine "eifersüchtige Gesellschaft". Ihr Lerneifer entspringe eher der Hoffnung auf Wohlstand und sozialen Aufstieg als einer überlieferten Liebe zur Bildung.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3275482
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 05.12.2016/mkoh
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.