Süddeutsche Zeitung

Pädagogik:Intelligenz ist nicht angeboren

Lesezeit: 6 Min.

Forscher behaupten immer wieder das Gegenteil. Richtig aber ist: Die Gene haben kaum einen Effekt - es kommt auf die Förderung an.

Gastbeitrag von Christof Kuhbandner

Manchmal ergibt ein einziges Wort einen großen Unterschied. Carol Dweck, eine der weltweit führenden Forscherinnen auf dem Gebiet der Lernmotivation, erzählt dazu in Vorträgen gerne von einer Schule in Chicago, auf der Schüler nach einer schlechten Leistung anstatt der Note "nicht bestanden" die Note "noch nicht bestanden" bekommen. Ein minimaler Unterschied, mit großer Wirkung. Das "noch" transportiert nämlich etwas, das sich in zahlreichen Studien mit Hunderttausenden Schülern als einer der zentralen Motoren für Lernen und Leistung erwiesen hat: die Überzeugung, dass jeder prinzipiell zu guten Leistungen fähig ist, weil Intelligenz nichts Angeborenes oder Festes ist, sondern vielmehr erst durch bestimmte Lernerfahrungen entsteht. Und diese kann man durch bessere Lernstrategien, mehr Anstrengung oder besseren Unterricht erreichen.

Schlägt man aktuell eine Zeitung auf, findet man immer wieder Beiträge von Wissenschaftlern, in denen die gegenteilige Überzeugung verbreitet wird - dass Intelligenz hochgradig vererbt sei. Aus diesem angeblichen Einfluss der Gene werden bildungsbezogene Schlüsse gezogen: "Das Verständnis, dass die DNA den wichtigsten Einfluss auf den Bildungserfolg hat, kann Eltern helfen, die Schwierigkeiten ihres Kindes zu akzeptieren", schrieb der Genforscher Robert Plomin Anfang Oktober in der Zeit. 2015 behauptete er dort sogar: "zehn Prozent sind das, was Lehrer aus einem Kind herausholen können". Und die Intelligenzforscherin Elsbeth Stern schrieb unlängst in der Zeitschrift Forschung und Lehre: "Ich halte sehr viele Vorträge vor Lehrern und Lehrerinnen, und die akzeptieren inzwischen, dass angeborene Intelligenzunterschiede existieren".

Solche Sätze haben eine fatale Wirkung auf Schüler, Eltern und Lehrkräfte. Demnach wären schlechte Leistungen naturgegeben und müssten hingenommen werden. Anstatt zu versuchen, etwas zu lernen, sollten die betroffenen Kinder dann besser lernen, mit ihrer Dummheit gut zu leben.

In den entsprechenden Beiträgen wird auf umfangreiche Studien verwiesen, die scheinbar zeigen, dass die Intelligenz zu mindestens 50 Prozent und im Erwachsenenalter sogar bis zu 70 Prozent oder mehr vererbt sei. Ein genauerer Blick hinter diese Studien eröffnet allerdings eine Welt, in der nichts so ist, wie es zunächst erscheint, und in der sich offenbar selbst Fachexperten verirren. Der Begriff der "Erblichkeit" ist in dieser Welt sehr eigentümlich definiert, ohne dass dies bei der Interpretation der Ergebnisse beachtet und in der Kommunikation nach außen kenntlich gemacht wird. Um es vorwegzunehmen: Der Blick hinter diese Studien zeigt genau das Gegenteil - dass Gene in Wirklichkeit bei der Intelligenz kaum eine Rolle spielen.

Diese sogenannten populationsgenetischen Studien halten diverse Überraschungen bereit. Die wohl größte ist: Die Studien untersuchen gar nicht, ob bestimmte Gene die Intelligenz verringern oder erhöhen. Das wird erst in jüngerer Zeit erforscht - mit ganz anderen Ergebnissen, wie wir noch sehen werden. Stattdessen ermitteln die Studien, wie stark in einer Gruppe die IQ-Werte von Individuen um den Mittelwert der Gruppe streuen - egal, wo dieser Mittelwert liegt. Die Annahme ist, dass die Streuung durch genetische Unterschiede und unterschiedliche Umwelteinflüsse erzeugt wird. Je unterschiedlicher die Gene und die jeweilige Umwelt sind, umso breiter die Streuung.

Ein logischer Fehlschluss

Durch den Vergleich bestimmter Personengruppen versucht man dann, darauf zu schließen, welchen Anteil die Gene an der Streuung haben. Etwa bei gemeinsam aufgewachsenen Zwillingen: Streuen die IQ-Werte der Eineiigen weniger als die der Zweieiigen, schließt man, das beruhe auf den Genen, weil die Umwelt pro Zwillingspaar ja gleich war. Fällt die Streuung zum Beispiel um 25 Prozent geringer aus, wird daraus errechnet, dass 50 Prozent der Streuung genetisch bedingt sind. (Da sich zweieiige Zwillinge die Hälfte ihres Genmaterials teilen, wird zur Abschätzung der Geneffekte der Wert verdoppelt.)

Worauf also fußt eine solche angebliche "Erblichkeit" von 50 Prozent? Sie stützt sich auf nichts weiter als auf die Streuung von Intelligenzwerten in Gruppen. Schlussfolgerungen über den Einfluss von Genen auf die Intelligenz von Individuen, beispielsweise von Schülern, oder auf die durchschnittliche Intelligenz einer Gruppe, lassen sich daraus grundsätzlich nicht ziehen. Eben das ist aber der Aspekt, der Eltern, Lehrer oder Bildungsforscher interessiert. Daher ist die Aussage, "zehn Prozent sind das, was Lehrer aus einem Kind herausholen können", auch so gefährlich. Sie ist ein klassischer logischer Fehlschluss.

Wie viel man tatsächlich trotz der angeblich so hohen "Erblichkeit" aus Kindern "herausholen" kann, zeigt sehr eindrücklich der Flynn-Effekt. Er beschreibt das Phänomen, dass die Menschen immer intelligenter werden. Laut einer Überblicksstudie hat der durchschnittliche IQ von 1909 bis 2013 um etwas mehr als 29 Punkte zugenommen. Verglichen mit einer Person, die 1909 gelebt hat, sind wir heute im Schnitt hochbegabt. Dazu sei gesagt: Substantielle Veränderungen im menschlichen Genpool sind in so kurzer Zeit unmöglich. Der wundersame Anstieg des Denkvermögens beruht fast ganz auf Umwelteffekten wie besserer Bildung oder Ernährung.

Betrachtet man nun, welche Komponenten der Intelligenz überhaupt von Genen beeinflusst werden können, stellt sich heraus: Eigentlich sollte der Effekt der Gene relativ klein sein. Hilfreich ist der Vergleich mit einem Computer. Die Problemlösefähigkeit eines Computers hängt vom Potenzial seiner Hardware und von der Qualität der darauf installierten Software ab. Übertragen auf den Menschen heißt das: Seine Intelligenz besteht aus zwei Komponenten. Erstens der Hardware der biologisch vermittelten Fähigkeiten des Gehirns, etwa der neuronalen Speicherkapazität. Und zweitens der Software der im Laufe des Lebens erworbenen Wissensinhalte und Verhaltensstrategien. Wie beim Computer stammt die für intelligenzbezogene Tätigkeiten - Denken und Problemlösen - benötigte Software aus der Umwelt. Und da die beste Hardware ohne gute Software nichts leisten kann, hängt der Einfluss der Gene prinzipiell davon ab, dass die Umwelt eine gute Software bereitstellt.

Nun könnte man einwenden, dass genetische Effekte auf der Hardware-Ebene des Gehirns dem Erwerb qualitativ hochwertiger Software Grenzen setzen. Ein Blick in die Gehirnentwicklung zeigt aber, dass das unwahrscheinlich ist. Anders als oft vermutet wird, nimmt das Gehirnpotenzial eines Kindes nicht zu, sondern ab, während es wächst und klüger wird. Ein evolutionärer Trick: Kinder produzieren zunächst genetisch bedingt neuronale Verknüpfungen in großem Überschuss, damit sie flexibel auf die Umwelt reagieren können. Und während sie sich dann an ihre jeweilige Umwelt anpassen, wird der neuronale Überschuss erfahrungsbedingt abgebaut. Am Anfang der Intelligenzentwicklung steht also paradoxerweise ein relativ großes Gehirnpotenzial, das mit zunehmender Intelligenz abnimmt. Damit können Gene die Intelligenzentwicklung nur bedingt beeinflussen.

Studien, die den Einfluss bestimmter Gene auf die Intelligenz tatsächlich messen, bestätigen das. Es gibt Untersuchungen mit mehreren hunderttausend Personen, in denen zahlreiche Gene identifiziert wurden, die einen Einfluss auf die Intelligenz haben könnten. Allerdings ist der Effekt der einzelnen Gene verschwindend gering. Selbst wenn man alle Geneffekte kombiniert, kann die aktuelle Forschung Unterschiede in der Intelligenz nur zu vier Prozent erklären. Das Problem: Populäre Populationsgenetiker wollen den geringen Anteil der Gene an der Intelligenz nicht anerkennen. Stattdessen stellen sie mit statistisch fragwürdigen Extrapolationstechniken Vermutungen an. Etwa die, dass mit noch viel größeren Studien - eine Million Probanden oder mehr - weitaus mehr Gene identifiziert werden könnten. Irgendwann werde man sich dann der hohen populationsgenetischen "Erblichkeit" annähern. Aber auch diese Hoffnung ist ein Fehlschluss. Denn die möglicherweise zusätzlich identifizierbaren Geneffekte würden zunehmend immer kleiner ausfallen, so dass substanziell höhere genetische Anteile nicht zu erwarten sind.

Kommen wir zurück zu dem kleinen "noch". Kindern zu sagen, sie hätten "noch nicht bestanden", ist nicht nur aus pädagogischer, sondern auch aus biologischer Sicht angebracht. Weil die Intelligenz viel weniger mit den Genen zu tun hat, als einige Wissenschaftler behaupten. Sie verbreiten ihre Thesen, ohne wirklich überzeugende empirische Belege dafür zu haben. Das ist ethisch fragwürdig. Solche falschen Glaubenssätze können bei Kindern, die sich in der Schule schwertun, einen Teufelskreis auslösen. Das Kind selbst, seine Eltern, die Lehrer, alle haben dann weniger Vertrauen in das Potenzial, weil sie glauben das Kind sei "genetisch weniger intelligent". Das demotiviert das Kind und verleitet Erwachsene, es weniger zu fördern, weil "es ja eh nichts bringt". Klar, dass dann die Leistung sinkt - was wiederum zu bestätigen scheint, das sei vorherbestimmt. Und das Schlimmste: Bei dieser sich selbst erfüllenden Prophezeiung wird tatsächlich eine geringere Intelligenz entwickelt. Mit den Genen hat das aber nichts zu tun. Umso mehr mit der Umwelt, die auf diese Weise verhindert, dass Kinder ihr wahres Potenzial entfalten können.

Wer Kinder beim Lernen, beim Welterforschen begleitet, muss aber noch etwas anderes wissen. Die Tatsache, dass jedes Kind potenziell eine hohe Intelligenz entwickeln kann, heißt nicht, dass der Weg dorthin einfach ist. Vielmehr ist es ein Weg, auf dem es Motivationstiefs gibt, vor denen man nicht weglaufen kann. Ein Schüler, der diesen Weg noch nicht gegangen ist, wird also nicht, wenn er anfängt, an sich zu glauben, urplötzlich nur noch Fortschritte machen. Und die Erkenntnis vom geringen Einfluss der Gene auf die Intelligenz bedeutet auch nicht, dass Schüler ständig angetrieben werden sollten, in allen Fächern Höchstleistungen zu vollbringen. Wer das tut, verkennt den wichtigen Unterschied zwischen Intelligenz und Expertise. Die Intelligenz ist eine grundlegende mentale Ressource. Bei der Expertise stellt sich die Frage, wo man schwerpunktmäßig diese Ressource investiert. Auf dieser Suche sollten Schüler begleitet werden, damit sie ihre wahren Interessen finden und ihr Intelligenzpotenzial dort auch entfalten können. Und wenn dann in Bereichen, die ihnen weniger interessant erscheinen, ihre Expertise kleiner ist, muss man das akzeptieren.

Christof Kuhbandner, 44, ist Professor der Psychologie und Inhaber des Lehrstuhls für Pädagogische Psychologie an der Universität Regensburg.

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Quelle:
SZ vom 10.12.2018
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