Österreich:Die Note ist nichts, die Prüfung ist alles

MedAT 2020 - Graz

Die Fläche in der Grazer Messehalle wurde verdoppelt, das Aufsichtspersonal aufgestockt.

(Foto: Medizinische Universität Graz/A)

180 Fragen, 3000 Bewerber, eine Halle: Zu Besuch beim Medizinertest in Graz unter Pandemiebedingungen.

Von Susanne Hartung

Angelina Pohl sitzt barfuß auf einem Balkon in der Grazer Innenstadt, mit einem Bier in der Hand. Sie lächelt zufrieden. "So richtig einschätzen kann ich es natürlich nicht", sagt sie, "aber ich habe eher ein gutes Gefühl." Es ist keine Stunde her, da hat die 26-Jährige das letzte von mehr als 180 Kreuzchen gesetzt, vier Stunden lang hat sie ihr Wissen über drei Testbögen ausgegossen. Pohl, eine fröhliche Person mit langen blonden Haaren, ist extra aus Berlin angereist, um den diesjährigen MedAT zu absolvieren - den "Medizinischen AufnahmeTest" in Österreich.

In Österreich braucht man kein 1,0-Abitur, um Medizin zu studieren. Es reicht, diesen Test zu bestehen, zu dem die medizinischen Universitäten und Fakultäten in Wien, Graz, Innsbruck und Linz einmal im Jahr laden. Viele junge Leute, auch und gerade aus Deutschland, versuchen ihr Glück. Auch ihretwegen ist der Test eine Großveranstaltung, lange war nicht klar, ob er dieses Jahr stattfinden kann: Tausende Bewerber unter einem Dach, und das zu Corona-Zeiten. Wie soll das gehen?

Es handelt sich um "die größte Indoor-Veranstaltung in der Steiermark" seit Corona

"Dieser Tag wird ein hochregulierter sein", sagt Sabine Vogl, Vizerektorin der Medizinischen Universität Graz. Am Tag vor dem Test hat sie sich in der noch leeren Messehalle vor einem Mikrofon positioniert, mit Brille und Dauerlächeln. Vogl hat Zeit mitgebracht, sie muss erklären, was sich die Meduni Graz hat einfallen lassen, um die Gesundheit von knapp 3000 Personen zu schützen. Der MedAT, sagt sie, wird "die größte Indoor-Veranstaltung in der Steiermark seit Beginn der Pandemie". Dann rattert sie die Maßnahmen herunter: Mund-Nasen-Schutz, Abstand, Handdesinfektion, kontaktloses Fiebermessen am Eingang. Die Fläche wurde verdoppelt, das Aufsichtspersonal aufgestockt, Sektoren gebildet, zeitlich getaktet. Einen eigenen Raum wird es geben für all jene, deren Werte bei der Fiebermessung auffällig sind - glücklicherweise umsonst, wie sich nach dem Test herausstellen wird. Sicherheitskräfte wurden angemietet, um jegliche Menschentraubenbildung zu zerstreuen. Sogar der Grazer Nahverkehr stellt zu Stoßzeiten mehr Gefährt zur Verfügung, das Gesundheitsamt wird vor Ort sein. Man kann es als Gesamtleistung der Stadt ansehen, dass der Test dieses Jahr stattfinden kann.

Auch ohne die Rahmenbedingungen einer Pandemie ist der Aufnahmetest bei vielen gefürchtet. Der MedAT ist Österreichs Art, einmal im Jahr die geeignetsten Studenten für die 1740 Medizinstudienplätze im Land auszusuchen. Mehrere Stunden lang werden unter anderem naturwissenschaftliche Kenntnisse und kognitive Fähigkeiten abgefragt, unter Zeitdruck und mit der Konkurrenz vor der Nase. Ohne Vorbereitung, so die landläufige Meinung, sei der MedAT kaum schaffbar. Auch Angelina Pohl aus Berlin hat sich monatelang vorbereitet: "Anders geht es gar nicht. Da kann man es gleich bleiben lassen." Die Bestehensquote liegt irgendwo zwischen fünf und 15 Prozent, manche treten vier Mal an, bevor sie einen Studienplatz erhalten oder entnervt das Handtuch werfen.

Es ist ein Verfahren, das man je nach Perspektive gnadenlos oder gnadenlos gerecht nennen kann. Hört man sich um unter Medizinstudenten, jenen, die hoffen, bald welche zu sein, dem Bildungsministerium, den Universitäten, dann bekommt man den Eindruck, dass die Österreicher trotz der geringen Erfolgsaussichten zufrieden sind mit dem Test. Nicht einmal die Gymnasiallehrer stören sich daran, obwohl die Noten der Matura, des österreichischen Abiturs, keine Rolle spielen. Entwertet das die Matura nicht? Doch, sicher, sagt Herbert Weiß, Vorsitzender der AHS-Gewerkschaft, die die österreichischen Gymnasiallehrer vertritt. "Aber wir als Lehrer streben hier keine Änderung an."

Eine Vergabe der Studienplätze nach Matura-Noten wäre für Weiß nur denkbar, wenn alle unter komplett gleichen Bedingungen maturieren würden. "Und das ist nicht der Fall", sagt er. "Wir haben keine zentrale Beurteilung, und es maturiert ja auch nicht jeder in den gleichen Fächern." Außerdem, so Weiß weiter, ergebe es ja Sinn, in einem Eignungstest die Fähigkeiten abzufragen, die später im Studium gebraucht werden. "Bei Medizin zum Beispiel Biologie und Chemie." Kurz: Man muss nicht in allen Fächern brillieren, sondern in jenen, auf die es ankommt. Eine Eins in Griechisch oder Musik sagt nicht viel darüber aus, ob später jemand eine gute Ärztin oder ein guter Arzt wird.

Diese Herangehensweise schätzt auch Angelina Pohl am MedAT: "Es ist halt eine faire Variante, alle haben die gleichen Chancen. Du musst Matura oder Abi haben, der Schnitt ist egal." Sie selbst legte ihr Abitur 2014in Rheinland-Pfalz ab, mit 2,1. Kein schlechter Abschluss, aber weit entfernt von einem Studienplatz. Zwölf Semester Wartezeit, den deutschen Medizineignungstest TMS und eine abgeschlossene Ausbildung zur medizinisch-technischen Assistentin später ist da trotzdem: nichts. Seit sechs Jahren fällt sie zuverlässig durch die Maschen des Netzes, das die deutsche Hochschulpolitik geknüpft hat. Finanzielle Ressourcen für Studienplatzklagen oder eine Privatuni im Ausland hat sie nicht. Und damit ist sie nicht allein. Jedes Jahr pilgern deshalb mehr und mehr "Piefkes" zum Medizinertest nach Österreich.

Dass sich das bald ändern wird, ist nicht wahrscheinlich - obwohl auch Deutschland den Zugang zum Medizinstudium neu geregelt hat. Anlass war ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2017, das unter anderem die Wartezeit von bis zu 15 Semestern als zu lang und die Abiturnote als zu wichtig kritisiert hatte. Die Wartezeit wurde abgeschafft und Kriterien abseits der reinen Note gestärkt - zum Beispiel der Medizinertest. Doch alle Versuche, den Einfluss des Abischnitts wirklich gravierend zurückzustutzen, scheiterten - auch am Widerstand der Gymnasiallehrer. Ihr Argument: Ein einmaliger Test, abhängig von der Tagesform der Bewerber, könne niemals auch nur annähernd so aussagekräftig sein wie eine Abiturnote, die zwei gesamte Jahre abbilde. Seit der Reform werden sogar noch mehr Medizinstudienplätze als zuvor an die Besten eines Abiturjahrgangs vergeben - 30 statt 20 Prozent. 2020 wurden die Studienplätze erstmals nach dem neuen System vergeben.

In Wien hält man dagegen. Seit der Einführung des MedAT habe sich die Abbrecherquote im Medizinstudium "erfreulicherweise auf unter zehn Prozent gesenkt", so eine Sprecherin des Bundesbildungsministeriums. "Damit verbunden war über die Jahre auch eine deutliche Reduzierung der durchschnittlichen Studienzeit, die nun sehr nahe an der Regelstudienzeit von zwölf Semestern liegt."

Über dem Grazer Augarten geht die Sonne unter, Angelina Pohl hat ihr Bier ausgetrunken. Sie macht sich fertig, es geht jetzt zum Abendessen. Und dann sofort ins Bett. Langsam lässt der Adrenalinrausch nach, und die Strapazen des langen Tages fordern ihren Tribut. "Der MedAT ist mittlerweile mein einziger Lichtblick", sagt sie, lächelt und seufzt matt. Was sie macht, wenn sie dieses Jahr nicht besteht? "Nächstes Jahr wieder probieren. So lange, bis es klappt."

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