Süddeutsche Zeitung

Odenwaldschule:Ort der "Verwahrlosung"

  • Zwei neue Studien beschäftigen sich mit dem jahrzehntelangen Missbrauch an der Odenwaldschule.
  • Sie zeigen den Umfang des Versagens staatlicher Aufsichtsbehörden in dem Fall.
  • Die Wissenschaftler sind außerdem sicher, dass die Zahl der Missbrauchopfer deutlich höher liegt als bisher angenommen.

Von Susanne Höll, Wiesbaden

Für den Jahrzehnte andauernden Missbrauch an der südhessischen Odenwaldschule ist auch ein eklatantes Versagen staatlicher Aufsichtsbehörden verantwortlich. Zu diesem Schluss kommen zwei neue Studien zu dem Skandal in dem ehemaligen Landerziehungsheim, die der hessische Sozialminister Kai Klose (Grüne) am Freitag in Wiesbaden vorstellte. Danach war die einst als reformpädagogische Vorzeigeinstitution gerühmte Internatsschule unter ihrem früheren pädophilen und kriminellen Direktor Gerold Becker ein Ort der "Verwahrlosung" und des Verbrechens.

Klose und die Autoren der neuen Studien, Florian Straus und Jens Brachmann, zeigten sich entsetzt über das Ausmaß des Missbrauchs und die Ignoranz und Untätigkeit von Schulaufsichtsbehörden und Jugendämtern bis in das 21. Jahrhundert hinein. Straus, der für seine Arbeit zahlreiche frühere Schüler, Lehrer und Mitarbeiter der Schule befragte, meinte, es habe bei den Behörden kein Problembewusstsein gegeben. Klose, selbst Lehrer, sagte angesichts der unzureichenden Aufsicht: "Mir fehlen die Worte." Der Minister bat die Hunderten Opfer sexueller Gewalt an der Schule ausdrücklich um Verzeihung: "Für das Versagen staatlicher Stellen bitte ich all die, denen Leid widerfuhr, um Entschuldigung." Ausweislich der Studien liegt die Zahl der missbrauchten Jungen und Mädchen deutlich über der Zahl von 132, die Wissenschaftler bislang als Minimum angenommen hatten. Man könne von 500 bis 900 jungen Menschen ausgehen, hieß es. Eine genaue Zahl wird sich aber wohl nie feststellen lassen.

Der frühere Odenwaldschüler und Mitbegründer der Betroffenen-Organisation "Glasbrechen", Adrian Koerfer, äußerte sich erleichtert über die Ergebnisse der beiden umfangreichen Studien. Die Jungen und Mädchen, denen Gewalt angetan worden sei, würden endlich befreit vom Vorwurf, Verleumder und Nestbeschmutzer zu sein, sagte er. "Aus denen, die der Lügen beschuldigt wurden, sind Helden der Wahrheit geworden", fügte Koerfer hinzu. Einige andere frühere Odenwaldschüler waren Gäste bei der Präsentation im hessischen Landtag.

Ein klarer und eindeutiger Grund für das Versagen der staatlichen Behörden wurde nicht genannt. Die beiden Wissenschaftler beschrieben aber das System, das sich etliche kriminelle Lehrer und Mitarbeiter an der Schule - unter ihnen einige Frauen - zunutze gemacht hatten. Viele Schüler hatten sich seinerzeit nicht getraut, über die Übergriffe zu reden. Die, die es dennoch wagten, fanden oft keinen Glauben. Einige, auch damals prominente Eltern hätten ihre Kinder nach deren Klagen zwar von der Schule genommen. Doch seien sie nicht zur Polizei gegangen, weil sie mit dem einstigen Tabuthema sexueller Missbrauch nicht in Verbindung gebracht werden wollten. Auch habe die Schule unter Gerold Becker einen guten Ruf gehabt, Freundeskreise hätten, wie es Straus vom Münchner Forschungsinstitut IPP formulierte, "ihre schützende Hand" über die Schule gehalten.

Das Internat war 1910 in einem entlegenen Teil des Hambacher Tals bei Heppenheim gegründet worden. Schon Ende der 1990er Jahre hatte die Frankfurter Rundschau aufgrund von Aussagen ehemaliger Schüler über den Missbrauch berichtet. Doch diese Enthüllung verhallte weitgehend, nennenswerte Reaktionen der Aufsichtsbehörden sind aus jener Zeit nicht bekannt.

Erst 2010 wurde das ungefähre Ausmaß des Skandals publik, so wie andere Missbrauchsfälle an staatlichen und kirchlichen Einrichtungen. Seither sind auch viele Aufsichtsbehörden achtsamer beim Thema Kinder- und Jugendschutz. Klose verwies auf die Anstrengung der hessischen Landesregierung, auch bei den Themen Prävention und Fortbildung von Pädagogen. Die Odenwaldschule musste 2015 Insolvenz anmelden und wurde geschlossen. Inzwischen ist das Geländes mitsamt historischer Häuser an einen Investor verkauft worden, der dort einen Wohn- und Ferienpark bauen will.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4341396
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 23.02.2019/mkoh
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.