Süddeutsche Zeitung

Notenungerechtigkeit:Auf das Abi kommt es an

Gleiche Standards bei der Reifeprüfung? Davon ist Deutschland weit entfernt, trotz Plänen für vergleichbarere Abituraufgaben. Dabei spielen die Abschlussnoten immer noch eine entscheidende Rolle bei der Studienplatzvergabe. Warum die Kultusminister nicht halten werden, was sie versprechen.

Von Johann Osel

Wenn bayerische Eltern mit ihren Kindern auf dem Abiturball feiern und der Alkoholpegel ebenso steigt wie die Laune, dann kann durchaus ein böses Wort über Bremen oder Nordrhein-Westfalen fallen. Was die eigenen Sprösslinge am Gymnasium zu leisten hatten, wird da beschworen - während es in anderen Ländern ein "Billig-Abitur" gebe.

Gewitzelt wird im Süden nur allzu oft über Unterschiede beim Abitur, gern mit Zuspitzung: dass an Isar und Donau zum Abitur die großen Dichter zu verinnerlichen seien, an Weser und Rhein eher Jugendromane in Großdruckschrift; dass sich der Münchner Gymnasiast fast in die Sphären der höheren Mathematik hinaufrechne, während der Hamburger noch die Finger zu Hilfe nehme.

Und natürlich kommt der Vorwurf: Die Billigheimer außerhalb des Freistaats würden mit ihren guten Noten all die heiß begehrten Studienplätze blockieren. Eine Ungerechtigkeit. Oder?

Das große Warten hat begonnen

Gerade hat das große Warten begonnen. Das Schuljahr in Bayern endet in der kommenden Woche, die Abiturzeugnisse sind schon verliehen, Bewerbungen an die Hochschulen verschickt. In den nächsten Wochen wird sich entscheiden, ob die Abiturnote für das Wunschstudium reicht.

Im Jahr 2013 wird es zum wiederholten Male etwa eine halbe Million Studienanfänger geben. Zum Vergleich: 1995 waren es gerade mal 260.000. Die Hochschulen sind gezwungen, immer stärker auszuwählen, und die Festlegung eines Numerus clausus ist dabei nach wie vor das etablierte Instrument.

Im Wintersemester vor zwei Jahren, dem letzten Semester, für das eine bundesweite Auswertung der Kultusministerkonferenz (KMK) vorliegt, waren etwas weniger als die Hälfte der Bachelor-Studiengänge zulassungsbeschränkt. Selbst in Massenfächern wie Betriebswirtschaft hat man heute mit einem Zweierabitur schon schlechte Karten. Mehr als die Hälfte aller Studiengänge hat einen Numerus clausus. Fest steht: Auf das Abitur kommt es an, mehr denn je.

"Bei der Studienzulassung gibt es nach wie vor eine Fixierung auf das Abitur, wissenschaftlich fundierte Aufnahmetests kommen kaum zur Anwendung", sagt der Tübinger Bildungsforscher Ulrich Trautwein. Er schlägt deshalb vor, verstärkt auch auf Studieneingangstests zu setzen. "Bei verschiedenen Abituranforderungen entstehen bedenkliche Ungerechtigkeiten für die Bewerber."

Der Vorsitzende des Philologenverbands, Heinz-Peter Meidinger, warnte: "Es ist angesichts der Bedeutung von Hundertstelnoten in Abiturzeugnissen bei der Zulassung zu Studienfächern nicht tragbar, dass das Abitur in den Bundesländern zu unterschiedlichen Preisen zu haben ist." Doch ist das der Fall?

Offiziell ist der Abschluss überall gleich viel wert

Zwischen den Ländern variiert die Studienberechtigtenquote, von etwa 35 Prozent bis zu fast 60 Prozent. Bayern liegt auf den hinteren Plätzen. Zuletzt haben bundesweit 510.000 Jugendliche jährlich die Hochschulreife erworben. 360.000 davon das klassische Abitur, der Rest bekommt die Zulassung auf Fachoberschulen oder auf Berufsoberschulen.

Offiziell ist der Abschluss überall gleich viel wert. Das betonen die 16 Kultusminister bei jeder Gelegenheit - sehen aber dennoch Reformbedarf. Sie rücken ihrem jüngsten Beschluss zufolge so eng zusammen wie noch nie. 2014 wollen sie damit beginnen, die Lehrpläne in den Kernfächern an gemeinsame Bildungsstandards anzupassen. Diese könnten dann die Grundlage bilden für das Abitur 2016/2017.

In den kommenden Jahren soll es zudem eine zentrale Aufgabensammlung geben, aus der sich alle Länder bedienen. Es gehe nicht um ein Zentralabitur, sondern um vergleichbare Qualität und Bewertung, sagte Sachsen-Anhalts Minister Stephan Dorgerloh (SPD), gegenwärtig der KMK-Vorsitzende. "Das Anforderungsniveau wird am Ende gleich sein." Bei der Gelegenheit betonte er: Wissenschaftlich sei nicht belegt, dass das Abitur in den Ländern unterschiedlich anspruchsvoll sei.

Allerdings: Wenn es keine Unterschiede gäbe, wären dann die jahrelangen Verhandlungen der Minister über gemeinsame Standards nötig gewesen? Tatsächlich fehlt ein voll belastbarer Beleg. Wohl hat man Indizien: Über regionale Leistungsunterschiede jüngerer Schüler, zum Beispiel in der Mittelstufe, gibt es Studien. Ein Pisa-Ländervergleich zeigte zudem in den Naturwissenschaften durchschnittliche Abweichungen zwischen Schülern verschiedener Länder von einem Jahr Stoff. Dass sich bis zum Abitur diese Unterschiede kaum ausgleichen, ist logisch.

Eine etwas ältere und bisher wenig beachtete Liste vom Statistischen Bundesamt schlüsselte den Studienerfolg nach dem Kriterium auf, wo Abitur gemacht wurde. Studenten mit Abitur aus Baden-Württemberg und Bayern erlangen zu mehr als 80 Prozent den Hochschulabschluss, die aus Bremen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern oder Nordrhein-Westfalen nur jeweils zu etwa 70 Prozent. Die Daten sind jedoch mit Vorsicht zu genießen: So wird die soziale und finanzielle Lage der Studenten nicht berücksichtigt, ein Hauptgrund für gescheiterte Studienverläufe.

Aussagekräftiger ist die sogenannte Tosca-Studie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung von 2002, aus der Teile erst später ausgewertet wurden. Für zwei Länder - Baden-Württemberg und Hamburg - gibt es vergleichende Informationen zu den Abiturienten. In Mathematik lagen die Hanseaten um mehr als ein Schuljahr hinter den Gleichaltrigen im Südwesten. Teils konnte dies dadurch erklärt werden, dass in Baden-Württemberg öfter Mathe-Leistungskurse belegt wurden. Auffällig an den Ergebnissen war aber, dass die Hamburger für die identische Note geringere Leistungen erbringen mussten.

Keine exakt gleichen oder zentral gestellten Aufgaben

Ändert sich das nun alles durch den Aufgaben-Pool? Das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen in Berlin (IQB), eine von den Ländern getragene Einrichtung, soll diesen Pool betreuen. Die Kultusministerien sollen dort Aufgaben einreichen. Die Forscher stellen dann "für geeignet befundene" Tests in den Pool, die Länder können diese Musteraufgaben abändern.

Konkret wird es also keine exakt gleichen oder gar zentral gestellten Aufgaben geben - jedoch angeblich gleichwertige. Wie sich die Länder en détail daran halten, ist fraglich. So ist es vorstellbar, dass manche die Sammlung eher grob als Richtlinie nutzen. Letztlich haben KMK-Beschlüsse nicht die Rechtswirkung eines Verfassungsorgans. Irgendetwas müssen die Länder freilich am Ende liefern - angesichts der Vorschusslorbeeren, die sich die Kultusminister nach ihrem Beschluss bereits gewährt haben.

Die Kernfrage ist: Wird das Abitur mittelfristig mancherorts schwieriger, mancherorts einfacher? Aus dem Ministerium in München heißt es: "Bayern wird auf jeden Fall das hohe Niveau halten." Man werde sich aus dem Pool nur Vorschläge herauspicken, die den bisherigen Qualitätsanspruch erfüllen.

"Kein Billig-Abitur"

Aus Nordrhein-Westfalen verlautet sinngemäß, dass das Abitur nicht schwieriger werde, ohnehin seien nie nennenswerte Unterschiede festgestellt worden. In Bremen sagt man, es gebe im Stadtstaat "kein Billig-Abitur". Dass man bei bundesweiten Vergleichen hinten rangiere, liege an der hohen Risikogruppe, also an den sozial schwachen Schülern. Das Spitzenfeld könne sich mit anderen Ländern messen lassen. Eine Person mit Einfluss in der KMK meint dagegen: "Einige Länder wollen ja das Abiturzeugnis am liebsten mitsamt der Geburtsurkunde verleihen. Diese Linie werden sie überdenken müssen."

"Wirkliche Vergleichbarkeit beim Abitur ist eine Illusion", sagt der Tübinger Forscher Trautwein. Alleine schon deshalb, weil selbst gemeinsame Pool-Aufgaben nur einen Teil der Abiturnote ausmachten. Eine Angleichung der Leistungserwartungen nach oben habe "vermutlich auch ungewollte Auswirkungen auf die Abiturquoten". Man dürfe Abiturienten nicht für etwas verantwortlich machen, für das sie nichts können - sondern ihre Lehrkräfte und die Bildungspolitik: "Nicht nur Fleiß und Begabung eines Abiturienten beeinflussen die Leistung, sondern auch die Qualität des Unterrichts."

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Quelle:
SZ vom 25.07.2013/jobr
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