Neue Lernkonzepte:"Aussieben kann nicht Aufgabe von Schule sein"

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Wer ist schneller, wer ist besser? Big Data könnte den Leistungsdruck von Schülern nehmen, sagen Befürworter. (Foto: dpa)

Unsere Schulen sind militärisch organisiert, kritisiert der Big-Data-Experte Viktor Mayer-Schönberger. Er fordert, Lernen durch Tablet-Computer und Datenanalyse effektiver zu machen. Dafür müssten Ideologien verworfen werden.

Von Karin Janker

SZ.de: Herr Mayer-Schönberger, in Ihrem aktuellen Buch beschreiben Sie, wie Big Data, also die großflächige Datenerhebung und -auswertung, das Lernen in unseren Schulen verbessern kann. Warum halten Sie das für notwendig?

Viktor Mayer-Schönberger: Unsere Schulen sind immer noch vergleichsweise militärisch organisiert. Dafür steht die hierarchische Struktur: Der Lehrer vorne prüft das Wissen der Schüler ab. Und man geht eben nicht auf die Bedürfnisse des Einzelnen ein. An dieser Organisation ändert es auch nichts, wenn die Schüler den Lehrer duzen dürfen.

Wie lassen sich diese Strukturen verändern?

Indem die Information nicht nur von der Schule zum Schüler fließt - sondern auch in die Gegenrichtung. Nicht nur die Schüler haben etwas zu lernen, auch die Schulen und Lehrer müssen lernen, wie sie Inhalte besser vermitteln können. Datenauswertung kann helfen, den Lernprozess effizienter zu machen.

Inwiefern spielt Effizienz beim Lernen eine Rolle?

Es geht nicht darum, Schüler unter negativen Leistungsdruck zu setzen. Vielmehr kann die Datenerhebung dazu beitragen, dass jeder Schüler beobachten kann, wie er selbst besser und besser wird und etwa immer mehr Englischvokabeln beherrscht. Er muss sich dann nicht mehr mit dem Klassendurchschnitt vergleichen, sondern vergleicht seine eigenen Leistungen über eine bestimmte Zeitspanne hinweg.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass unser Notensystem als Feedback unzureichend ist.

Ja, weil wir momentan in Klassenarbeiten genauso wie in der Pisa-Studie nur punktuell und in Momentaufnahmen messen. Wir sehen also nur, wie gut ein bestimmter Schüler an einem bestimmten Tag eine Mathe-Gleichung lösen konnte. Ob das Lernen überhaupt hilft, ob sich der Schüler relativ zu seinem Potenzial steigern konnte, wird dagegen nicht ermittelt. Lehrer können da eigentlich nur verlieren, weil ihnen die Ergebnisse sehr wenig mitteilen. Sie müssen sich weiterhin auf ihre Intuition verlassen.

Was schlagen Sie stattdessen vor?

Lernen sollte datengesteuerter und individueller erfolgen. Es gibt zum Beispiel das Modell des umgekehrten Klassenzimmers: Es kehrt Hausaufgaben und Präsenzunterricht um. Den Standard-Frontalunterricht, etwa wenn der Lehrer an der Tafel etwas vorrechnet, kann sich jeder Schüler via Video zu Hause ansehen. Kommunikation und Interaktion mit dem Lehrer wird dagegen dann wichtig, wenn der Schüler selbst Aufgaben löst. Statt Hausaufgaben allein zu machen, bekommt der Schüler nun individuellere Unterstützung in Kleingruppen.

Aber ist die Schulklasse nicht auch ein Ort, wo Schüler Sozialkompetenz und den Umgang mit Schwächeren und Stärkeren lernen?

Der Klassenverband ist vielleicht nicht mehr die optimale Lernumgebung, als Sozialkontext bleibt er aber wichtig. Die traditionelle Offline-Schule hat eine wichtige Funktion: Sie lässt Kinder die Vielfältigkeit menschlichen Lebens begreifen. Bisher reagieren Schulen auf diese Vielfalt allerdings, indem sie allen das Gleiche vorsetzen - alle Schüler sitzen im selben Unterricht vor denselben Aufgaben.

Big Data ist umstritten: Auf Basis riesiger Datenmengen werden Vorhersagen getroffen, die über einen Lebensweg entscheiden können - zum Beispiel, wenn ein Schüler den Rat bekommt, Medizin zu studieren oder Automechaniker zu werden.

Das stimmt und hier liegt die größte Gefahr, wenn wir Big Data in unsere Bildung integrieren. Diese Datenanalyse sollte deshalb immer nur dazu dienen, den Lernprozess zu verbessern, aber nicht zum Filtern eingesetzt werden. Denn Big-Data-Vorhersagen beruhen immer nur auf Wahrscheinlichkeiten, aber sie können Schülern ihre Freiheit auf Zukunft nehmen. Bloß auszusieben kann nicht die Aufgabe von Schule sein.

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Wie könnte also eine sinnvolle Nutzung von Big Data im Unterricht konkret aussehen?

Eine Deutschklasse in der Oberstufe könnte beispielsweise die Literatur auf Tablet-Computern lesen. Mit Hilfe einer Software kann dann der Lehrer Einblick in die anonymisierten Anstreichungen der Schüler erhalten: Er sieht dann, welche Stellen die Schüler bei ihrer Lektüre interessant fanden und wo sie Fragen oder Probleme hatten. Auf dieser Grundlage kann er die nächste Unterrichtsstunde gestalten.

Warum werden solche Medien nicht längst an Schulen verwendet? Die meisten Schüler kennen Tablets ohnehin von zu Hause.

Das Bildungssystem ist ein Ökosystem, das sich mit Innovationen sehr schwer tut. Das liegt zum einen daran, dass Schulbuchverlage und Entscheider in der Bildung eher konservativ sind und Lehrmethoden oft auf Stereotypen, Präferenzen und Ideologie basieren. Aber auch viele Eltern sorgen sich, wenn ihre Kinder mit neuen Methoden konfrontiert werden, die noch nicht erprobt sind. Deshalb sträubt sich Bildungspolitik gegen Big Data und bleibt lieber beim Bewährten.

Wenn der Lernprozess, wie Sie vorschlagen, durch Big Data optimiert werden kann, steigt auch der Druck auf die Schüler: Wenn sie jetzt versagen, ist nicht mehr der Lehrer schuld, sondern sie selbst.

Tatsächlich liegt es bisher nicht am Schüler, ob er sein Potenzial ausschöpfen kann, sondern an der Form des Lernens. Wenn man diese effektiver macht, erhöht das die Verantwortlichkeit der Schüler. Denn natürlich ist es leichter zu sagen: Mein Lehrer ist ein Idiot.

Die Schule ist die Zeit der Jugendsünden, nicht jeder war andauernd Musterschüler. Wächst durch Big Data nicht auch das Risiko, dass man seine Vergangenheit nicht mehr loswird?

Es besteht die Gefahr, dass alte Fehler aus der Schule uns ein Leben lang verfolgen. Wichtig ist deshalb, dass es auch hier ein gesetzlich geregeltes Vergessen gibt: Nach einer bestimmten Zeit sollten die personenbezogenen Daten anonymisiert, zusammengefasst oder gelöscht werden.

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