Neue Bundesländer:DDR-Unterricht bei Genosse Hoffmann

Ausstellung Schule in der DDR

Halstuch und Liederblatt eines Jungpioniers: Mit der Aufnahme in die erste Klasse wurden Kinder in der DDR auch Mitglied der Jugendorganisation.

(Foto: picture-alliance/ dpa)

Sogar für Schüler im Osten ist die DDR mittlerweile ein Kapitel wie jedes andere im Fach Geschichte. Wie hält man wach, was nicht in Vergessenheit geraten soll?

Von Cornelius Pollmer, Leipzig

Vor dem Klassenverbund in der Leipziger Nachbarschaftsschule steht "Genosse Hoffmann vom Ministerium für Volksbildung", und auch ein Blick auf das andere Ende des Raumes lässt einen kurz stutzen, in welches Jahr man an diesem Donnerstag im Oktober eigentlich gerutscht ist: An der Wand eine Karte der Geographisch-Kartographischen Anstalt Gotha/Leipzig, sie zeigt "Die Erde, politische Übersicht" und auf selbiger noch immer zwei deutsche Staaten, BRD und DDR.

Dreht man sich wieder um, nimmt Genosse Hoffmann nun zupackender den Schüler Milo ins Verhör. Dem Zehntklässler legt er zur Last, im Schulhaus per Schmiererei "freie Wahlen" gefordert zu haben, was schon deswegen unerhört sei, weil es impliziere, solche gäbe es nicht in der DDR. Milo fliegt aus dem Zimmer und umgehend auch von der Schule, in den Gesichtern seiner Mitschüler mischt sich Amüsement mit einer retrospektiven Ahnung von der Bedrohlichkeit eines autoritären Systems.

Retrospektiv ist diese Ahnung, weil sich diese Szene vergangene Woche erst abgespielt hat, weil der "Genosse Hoffmann" eigentlich Thomas Förster heißt und weil Milo, Stand jetzt, nicht der Schule verwiesen wird. Förster hat sich vielmehr vor der Stunde bei Milos Lehrerin erkundigt, welchen ihrer Schüler sie als geeignet einschätzen würde, bei ein paar Takten spontanen Theaters robust zu reüssieren. Der eigentliche Beruf von Thomas Förster nämlich ist Schauspieler, zusammen mit der Schauspielerin Regina Felber und der Theaterpädagogin Katja Heiser bringt er an diesem Morgen ein Projekt des sächsischen Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen an die Schule.

Seit 2009 gibt es die Theaterperformance zum Alltag in der DDR, das Budget reicht für 20 bis 30 Auftritte im Jahr an sächsischen Schulen, deren Ablauf sich mit der Zeit angepasst hat. Fokussierte das Projekt zu Beginn noch die Zeit der Wendungen und Wenden im Jahr 1989, steht inzwischen der Alltag nicht nur an Schulen der DDR im Vordergrund.

Die Theaterpädagogin verweisen auf Parallelen in der Gegenwart

Die Arbeit von Förster, Felber und Heiser soll den Geschichtsunterricht über die Zeit der Deutschen Demokratischen Republik nicht ersetzen, sondern ergänzen. So wirbt Felber als Abgeordnete der Gesellschaft für Sport und Technik für die vormilitärische Ausbildung, und so erläutert Förster mit szenischem Spiel, worin der Unterschied besteht zwischen wirklich freien Wahlen und dem, was man schon in der DDR oft "Zettel falten" nannte - für die Schüler nimmt auf diese Weise im eigenen Klassenzimmer und unter eigener Mitwirkung Gestalt an, was bis dahin nur eine weitere Etappe der Zeitgeschichte im Lehrbuch gewesen war.

Im Anschluss an die vielen kleinen Alltagsszenen tippt Katja Heiser ein Gespräch mit der Klasse an, das auch Bezüge zur Gegenwart nimmt. Mit Blick auf die gerade nicht nur in Polen oder Ungarn wieder keimenden Sehnsüchte nach starker Führung durch wenige Hände erinnern Schüler wie Schauspieler an den Wert von Demokratie, gleich welche Anstrengung diese zuweilen auch bedeute. Schon für diese Erkenntnis lohnt die weitere Beschäftigung mit der DDR, wobei - so formuliert es Thomas Förster - diese als Thema den Schülern seit ein paar Jahren auch im Osten immer fremder werde, da sie zunehmend aus Elternhäusern stammten, die den "Arbeiter- und Mauernstaat" selbst nur noch als Kinder oder Jugendliche und jedenfalls frei von den allermeisten Repressionen erlebt hätten.

Die DDR wird zum historischen Ort, den Schüler immer weniger über die Erzählungen der Familie kennenlernen, sondern über den Geschichtsunterricht. Auch daran liegt es, dass Förster in Sachsen praktisch nie vor Klassen stand, in denen nostalgisch auf die DDR geschaut worden wäre. Durch das Theaterspiel, sagt er, könne man "die Zeitmaschine zum Funktionieren bringen" und die DDR gegenständlich und lehrreich im Lehrplan halten.

Dieser Schlager wurde für Propaganda eingesetzt?

Wer von den Schülern sich nach der Doppelstunde noch eingehender mit dem Thema befassen möchte, für den gibt es seit Kurzem einen bemerkenswerten Sammelband, der sich in vielen Aspekten der Frage widmet, auf welche Weise der untergegangene Staat im Schulunterricht eine Rolle spielen kann und sollte. Anna von Arnim-Rosenthal und Jens Hüttmann arbeiten bei der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und haben das Buch "Diktatur und Demokratie im Unterricht: Der Fall DDR" herausgegeben.

In 25 Beiträgen vermessen verschiedenste Fachkollegen das Feld. Das beginnt mit bedingt erquicklichen Ausführungen zum Forschungsstand der Zeitgeschichte wie zu der Frage, was Schüler über Zeitgeschichte eigentlich wissen sollten. Es wird aber zugänglicher auch für den allgemeininteressierten Leser, wenn es um den Einsatz von Zeitzeugen im Klassenzimmer geht oder in dem Anschlusskapitel um Modellprojekte und Lehrerperspektiven auf zeithistorischen Unterricht.

Zu lesen ist vom "Risiko Freiheit", bei dem Schüler das Thema Republikflucht in einem Feature aufbereiten, in dem sie selbst mitspielen und von dem sie am Ende eine DVD mit nach Hause nehmen können. Zu lesen ist vom Spiel "Bürokratopoly", das im Stile seines phonetisch zitierten Vorbildes die Gesellschaftsform der DDR kritisch abzubilden versucht. Zu lesen ist schließlich auch von einem durchaus beachtlichen Schülerblog, allerdings mit dem Schönheitsfehler, dass in dem Beitrag per Link auf eine Arbeit zum Thema "kollektives Gedächtnis" verwiesen wird, die im Internet eben nicht mehr abrufbar ist.

Das wäre nun eine griffige wie abgründige Pointe, würde sie dem Thema denn gerecht. Tatsächlich aber schreiben die Herausgeber, dass die Rahmenlehrpläne der 16 Bundesländer in den vergangenen 20 Jahren stark überarbeitet worden seien und die Zeit der deutschen Teilung nun überall vorkomme. Besonders in Ländern mit Zentralabitur ließe sich über die Setzung der DDR als Prüfungsthema eine Beschäftigung mit derselben gut steuern.

Das Buch massiert in Beiträgen von wechselhafter Qualität den kaum bestreitbaren Grundgedanken, dass gerade die Zeit der deutschen Teilung geeignet sei wie kaum eine zweite, autoritäre und demokratische Strukturen abzubilden und zu vergleichen. Darin besteht einerseits ein Wert, der bleibt. Andererseits, sagt Thomas Förster, der Schauspieler, könne man nicht abstreiten, dass der Platz für die DDR im Unterricht wie in den Schülerköpfen mit den Jahren kleiner werde. Was dies bedeute? "Dass das Leben weitergeht", sagt Förster.

Schüler im Westen haben noch immer eine andere Perspektive

Heiß diskutiert sei allerdings die Frage, ergänzt Kollegin Regina Felber, ob das Projekt nicht auch mal an Schulen im Westen zur kleinen Aufführung gebracht werden sollte. Dies ist bislang nicht geschehen. Gut in Erinnerung aber hat Förster einen Auftritt vor Schülern im sächsischen Döbeln, die gerade ihre Partnerklasse aus Wuppertal zu Gast hatte. In der Fragerunde nach dem szenischen Spiel seien die Schüler aus Wuppertal viel freier in ihren Fragen gewesen, sagt Förster - bei denen aus Döbeln sei eine gewisse Scham zu spüren gewesen.

Und vielleicht ergeben sich gerade in der größeren Entfernung vom real existierenden deutschen Sozialismus zuweilen auch neue Perspektiven. In der Nachbarschaftsschule in Leipzig ist am Ende festzuhalten, dass die Schüler mit allen perfiden Repressionsversuchen, die es seinerzeit gab, dem Grundsatz nach bereits vertraut gewesen sind - dass sie ihre Verwunderung darüber aber kaum im Zaum zu halten verstehen, dass ein betuppter Agitationsschlager wie "Sag mir, wo du stehst" allen Ernstes als wirksamer Versuch der Propaganda eingesetzt worden ist. "Sag mir, wo du stehst / Und welchen Weg du gehst!", heißt es in dem einst von der Liedgruppe Oktoberklub eingesungenen Stück.

Wie sich die Standpunkte mit den Zeiten auch ändern, hat Förster an anderen Schulen in Erfahrung gebracht. Bei seinem Versuch, als "Genosse Hoffmann" einen Schüler als Informanten zu gewinnen, schlägt er diesem in der Regel vor, sich zu setzen, um unterbewusst die Machtverhältnisse zu klären. Eine Schülerin lächelte ihn darauf einst an und sagte, vielen Dank, das sei gewiss sehr freundlich, aber solange er stehe, wolle sie besser auch stehen bleiben.

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