Nachhilfe im Internet:Erwachsene müssen draußen bleiben

The Simple Club

The Simple Club will "die coolsten Mathe-Videos Deutschlands" produzieren.

(Foto: The Simple Club)

Lernen mit Onlinevideos ist für Schüler längst selbstverständlich. Zu den größten Anbietern gehört "The Simple Club". Ihr Erfolgsrezept: Maximale Respektlosigkeit.

Von Paul Munzinger

Wie werde ich gut in Mathe?" heißt eines der Videos, es ist nur 4.28 Minuten lang und lässt sich trotzdem Zeit für ein lässiges "Moinsen" zur Begrüßung. Dann legt der Sprecher los: "Euch kotzen die ganzen Zahlen, Terme, Gleichungen, Ableitungen, Integrale und was es sonst noch alles an Gemeinheiten gibt so richtig an?", fragt er in die virtuelle Runde. "Ihr denkt euch: Wofür zum Arsch brauch' ich den ganzen Quark?" Und wie zur Hölle motiviert man sich "für so was abartig Weltfremdes und total Langweiliges wie Mathematik?" Zumindest eine Antwort findet er: "für 'ne geile Mathenote".

Vielleicht liegt es genau daran, dass so viele Schüler die Videos von The Simple Club ansehen. Weil ihnen hier niemand erzählt, dass wir nicht für die Schule, sondern fürs Leben lernen.

Sondern, dass es manchmal genau umgekehrt ist. Sich mit Online-Videos auf eine Klausur, das Abi oder die nächste Stunde vorzubereiten, ist für Schüler in Deutschland längst Alltag geworden. Mindestens drei von vier, schätzt der Bremer Medienpädagoge Karsten Wolf, nutzen die Clips, er spricht von einem "neuen Bildungsfernsehen" im Internet. Eine ganze Reihe von Mathe-, Biologie- und Welterklärern konkurriert auf Youtube um Aufmerksamkeit, sie heißen "musstewissen", " Mr Wissen2go", "sofatutor". Oder eben "The Simple Club", einer der größten Anbieter mit Hunderttausenden Abonnenten und 1600 Videos zu acht Fächern. Die erfolgreichsten haben weit mehr als eine Million Klicks, alle zusammen kommen auf 180 000 Millionen. Die Firma hat mittlerweile eine eigene Lernplattform im Internet gegründet, in der Hoffnung, dass sich damit mehr Geld verdienen lässt als mit Werbung auf Youtube.

Es ist eine Parallelwelt, die sich online gebildet hat, unabhängig vom Schulsystem, seinen Regeln, seinen Qualitätsmaßstäben. Die Frage ist nur: Ist das auch gut für die Schüler?

Ein Freitag Mitte Juli, ein Nachmittag wie ein Start-up-Klischee. The Simple Club hat den "Activity Room" in einem Coworking Space in Berlin-Mitte für ein Strategietreffen gemietet. In der einen Ecke ein Kicker, in der anderen eine Tischtennisplatte, auf einem Tisch palettenweise Energydrinks. Vorne, vor einem riesigen Flachbildschirm, stehen Alexander Giesecke und Nicolai Schork, die Gründer von The Simple Club. Beide 22 Jahre alt, beide in Turnschuhen und hautengen, über den Knien zerrissenen Jeans, beide mit kurzen Haaren und akkurat geschnittenem Bart. Und beide unentwegt und unverschämt selbstsicher lächelnd.

Als Giesecke und Schork ihren Youtube-Kanal gründeten, waren sie 16-jährige Schüler aus einem Dorf in der Nähe von Heidelberg, die "etwas im Internet starten" wollten. Etwas mit Musik? Ein soziales Netzwerk? Am besten erschienen die Chancen da, wo sie sich selbst auskannten und die Konkurrenz wenig furchteinflößend war. Also Mathe und Youtube. Denn dort fanden sie nur Erklärvideos, in denen Lehrer "mit zugeknöpftem Hemd an der Tafel standen und unglaublich langweilige Dinge erzählten". Also beschlossen Giesecke und Schork: "Wir machen jetzt die coolsten Mathe-Videos Deutschlands."

Heute sitzen im Activity Room vor ihnen 26 Mitarbeiter, keiner ist über 30, manche unter 20. Wo wollen wir hin? Darüber wollen sie gleich diskutieren, aber erst lautet das Thema: Wer wollen wir sein? Wenn unsere Firma ein Mensch wäre: Was wäre er für ein Typ? Was wäre ihm wichtig? Was wäre sein Beruf? Er muss wie ein großer Bruder sein, schlägt einer vor. "Das ist geil", sagt Giesecke. Er muss gut erklären können, sagt eine andere, Dinge runterbrechen, ohne ein Klugscheißer zu sein. "Geil", sagt Giesecke. Er muss hilfsbereit, fürsorglich sein, er glaubt an das Potenzial in uns allen. "Hammer", sagt Giesecke. Er ist wie ein Kindergärtner, schlägt einer vor, der sich um die Leute kümmert, die Hilfe brauchen. "Geht das auch in cooler?", fragt Giesecke. Klar: Er ist der eine geile Lehrer, der sich nicht um die Regeln des Schulsystems schert. "Geil", sagt Giesecke.

Die Konkurrenz bei Youtube gibt sich jung, aber seriös. The Simple Club gibt sich in seinen Videos, die alle von Giesecke gesprochen werden, vor allem: jung. Hannibal, das lernt der Zuschauer hier zum Beispiel, das ist dieser "kranke Motherfucker", der im Zweiten Punischen Krieg die Alpen überquerte. Wilhelm I.? König von Preußen, erster deutscher Kaiser und "ein ziemlicher Lappen". Der Absolutismus? Ein "Spezialfall der Monarchie, so wie der A 6 ein Spezialfall der Audis" ist. Provokationen, natürlich, aber mehr noch ein Zeichen an die Schüler, auf wessen Seite The Simple Club stehen will: auf ihrer, nur auf ihrer. "Wir sind herablassend", sagt Giesecke, "aber nicht gegenüber dem Schüler, sondern gegenüber dem Stoff." Die Grenze zur Welt der Erwachsenen wird scharf gezogen, sie ist das Alleinstellungsmerkmal des Unternehmens. "Uns ist eigentlich egal, was Lehrer und Eltern von uns denken", sagt Giesecke.

"Am Ende muss es der Schüler verstehen"

Unabhängige Forschung über die Wirksamkeit der Nachhilfe per Youtube-Video gibt es bislang nicht. Wissenschaftler wie Christian Spannagel, Professor für Mathe- und Informatikdidaktik in Heidelberg, fordern sie dringend ein. Es gehe darum, die Chancen für die Schüler zu nutzen und die Gefahren zu verstehen - wobei Spannagel klarmacht, dass für ihn die Chancen die Gefahren bei Weitem überwiegen. "Ein Schüler muss ein Problem lösen und braucht Informationen - warum sollte er sich die nicht in einem Video holen?"

Spannagel weist aber auch darauf hin, dass es in der Schule heute um Kompetenzen gehe - "und die erwerbe ich nicht, indem ich ein Video anschaue". Um einen Stoff zu erlernen, seien Videos deshalb häufig nicht geeignet, wohl aber, um ihn zu wiederholen. Die größte Gefahr sieht er darin, dass es im Internet keine Qualitätskontrolle gebe und dass viele Videos folglich falsche Informationen enthielten - was nicht alle Schüler erkennen könnten.

Auch in den Videos von The Simple Club hat es Fehler gegeben, und trotzdem oder gerade deshalb sehen Giesecke und Schork das anders. Bei ihnen läuft es so: Die Autoren bespielen die Kanäle, Mathe, Biologie oder Geschichte - Fremdsprachen gibt es nicht bei The Simple Club, da habe man sich noch nicht "rangetraut". Einige Autoren studieren das Fach, über das sie schreiben, andere sind eher durch Zufall dazu gekommen. Jeder Autor ist für seine Videos selbst verantwortlich, Korrekturschleifen gibt es nicht. Giesecke und Schork vertrauen auf die Weisheit der Masse. Die ersten Zuschauer jedes Videos seien keine Schüler, sondern Erwachsene, "die uns gucken, um uns fertigzumachen", sagt Schork. "Wenn wir ein Video hochladen, wissen wir innerhalb von fünf Minuten, ob es richtig oder falsch ist." Und wenn ein Video am Ende nicht "professorenkorrekt" ist - auch in Ordnung. "Den Ansatz haben wir nicht", sagt Schork, "und den müssen wir auch nicht haben. Am Ende muss es der Schüler verstehen."

Medienpädagoge Wolf formuliert das etwas drastischer. "Granatenfalsch", seien manche Videos. "Aber ich will nicht wissen, was Lehrer so erzählen, wenn sie etwas gefragt werden, was nicht im Lehrbuch steht." Wolf betont die Chancen der Technik, die er vor allem in der Vielfalt sieht. Während ein Schüler seinem Lehrer in der Schule "ausgeliefert" sein könne, könne er im Internet nicht nur seinen Nachhilfelehrer frei wählen - sondern vor allem die Geschwindigkeit, in der er lernt. Auch bei Lehrern habe sich das Image der Videos mittlerweile gewandelt. Galten sie noch vor wenigen Jahren als "des Teufels", sähen viele darin heute eine Unterstützung. Viele Schüler, berichtet Giesecke, würden ihre Videos nur kennen, weil ihre Lehrer sie im Unterricht gezeigt hätten.

Womöglich, sagt Wolf, könnten die Videos die Bildung sogar gerechter machen. Sie stünden auch Kindern offen, deren Eltern sich keine Nachhilfe leisten können und sich wenig um die Schulkarriere ihrer Kinder kümmern. Bislang allerdings deute vieles auf das Gegenteil hin: dass die Videos eher jene nutzten, die ohnehin über gute Lernstrategien verfügten.

Giesecke und Schork glauben an das Gegenteil. Ihre Belege sind die Online-Kommentare unter den Videos. "Ihr seid das beste was mir je passiert ist!", "Warum können Lehrer das nicht so erklären ...", "ihr habt mir den Arsch gerettet" - so klingen die meisten Beiträge. Ihr Ziel sei es, den Schülern die Angst zu nehmen und ihnen klarzumachen, dass es nicht an einer "Intelligenzbremse" liege, wenn sie etwas nicht verstehen. Sondern nur daran, dass sie eben ein anderes Tempo hätten. Es sei einer der Grundfehler des Systems, dass jeder den gleichen Stoff in der gleichen Zeit lernen müsse. Individuelles Lernen? Nichts als ein Schlagwort.

Wenn Giesecke und Schork mit dem Slogan "Schule ist scheiße" auf Konferenzen auftreten, dann verbirgt sich dahinter nicht nur eine halbstarke Pose, sondern eine Fundamentalkritik am Bildungssystem. Es mache den Schülern nicht klar, warum sie lernen, was sie lernen sollen - und vor allem nicht, wie.

Wo wollen wir hin?, lautet das zweite Diskussionsthema im Activity Room in Berlin. Dabei wissen hier alle genau, wo sie hinwollen. Sie wollen das Lernen verändern, auch in der Schule. "Disrupten", wie Giesecke sagt. "Je mehr Views wir haben, desto klarer wird, dass hier eine Revolution im Gange ist", sagt eine Mitarbeiterin. "Geil", sagt Giesecke.

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