Nach dem Burkini-Urteil:Sprung ins kalte Wasser

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Konservative Muslime sehen durch das Burkini-Urteil - das Foto zeigt eine Muslimin in einem Berliner Freibad - ihre religiösen Gefühle missachtet. (Foto: Stephanie Pilick/dpa)

Das Bundesverwaltungsgericht hält es für zumutbar, dass muslimische Schülerinnen am Schwimmunterricht teilnehmen. Hier prallen Schulpflicht und Religionsfreiheit aufeinander. Fast jede Religion hat ursprünglich einen Totalanspruch - doch die Begegnung mit entblößten Körpern muss jeder Schüler aushalten lernen.

Von Johan Schloemann

Die rituelle Beschneidung von muslimischen und jüdischen Jungen bleibt in Deutschland erlaubt: Das hat der Bundestag im vergangenen Jahr zugunsten der religiösen Minderheiten beschlossen. Der Zwang jedoch, am gemeinsamen Schwimmunterricht mit Jungen teilzunehmen - wenn gewünscht, mit verhüllendem Ganzkörperanzug, dem sogenannten Burkini -, bleibt für muslimische Mädchen bestehen: Das hat soeben das Bundesverwaltungsgericht beschlossen. Mal für, mal gegen die religiöse Überzeugung - ist das nicht ein Widerspruch?

Nein, ist es nicht. Um das zu verstehen, muss man sich mit dem Sinn des Grundrechts der Religionsfreiheit befassen, gerade auch mit dessen deutscher Tradition. Seit der Reformationszeit nämlich, also seit der Spaltung der christlichen Konfessionen, musste die Duldung religiöser Verschiedenheit in deutschen Landen organisiert werden. Protestanten mussten es wohl oder übel aushalten, Katholiken bei der Fronleichnamsprozession zuzusehen, ohne vor Ärger durchzudrehen - und umgekehrt galt dasselbe.

Die Religionsfreiheit erstreckt sich daher, als Garantie wie als Verpflichtung, in besonderer Weise auf die Öffentlichkeit, wo Differenzen aufeinanderprallen. Auch wenn es mitunter ein schmerzhafter Lernprozess war, man übte sich so im Zurückhalten des unbedingten Wahrheitsanspruchs, schon lange vor der Durchsetzung des demokratischen Verfassungsstaats. Das heißt nicht, dass die Kirchen nicht immer wieder gewettert hätten gegen das, was ihnen sittlich anstößig erschien - italienische Opern, verheiratete Geistliche, frivole Romane. Aber letztlich waren und sind die weltanschaulichen und kulturellen Unterschiede im öffentlichen Leben nicht ins Private zu verdrängen, sondern zu ertragen. Und dies gilt erst recht seit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht.

Es ist erlaubt, an den Sinn bestimmter Dinge zu glauben

Das ist, könnte man sagen, das deutsche Modell. Es kommt jetzt wieder stärker zum Tragen, nachdem in größerer Zahl Angehörige anderer Religionen eingewandert sind, vor allem Muslime. Und so erklärt sich auch der Unterschied zwischen der Beschneidung und dem Schwimmunterricht: Das Grundgesetz schützt im Rahmen der eigenen Neutralität die freie Ausübung der Religion. Hierzu gehören insbesondere religionsinterne Rituale und Traditionen, sofern sie der Allgemeinheit (gerade noch) als zumutbar erscheinen; in diesem Sinne gleicht die rituelle Beschneidung der christlichen Taufe oder der Erstkommunion.

Es ist erlaubt, in einer Gemeinschaft an den Sinn solcher Dinge zu glauben. Aus demselben Grund wird auch die Ausübung wichtiger nicht-christlicher Feiertage Schülern und Arbeitnehmern zunehmend möglich gemacht, in einigen Bundesländern bereits per offiziellem Staatsvertrag.

Beim Schwimmunterricht an der staatlichen Schule liegen die Dinge allerdings anders. Im Mathematik- und Deutschunterricht gibt es in Deutschland kein Kopftuchverbot für Schülerinnen, weil das Kopftuch - nach derzeit herrschender Auffassung - einfach nicht stark genug mit dem staatlichen Erziehungsauftrag kollidiert (wenn Lehrerinnen eines tragen, sehen das viele anders). Im Schwimmunterricht aber muss man eben nun mal schwimmen, im Turnunterricht muss man turnen. Und übermäßig viel Kleidung ist dabei bekanntlich hinderlich.

Wenn das einem 13-jährigen Mädchen und seinen Eltern zu unzüchtig ist - wie in dem Frankfurter Fall, über den das Bundesverwaltungsgericht entschieden hat -, dann lautet die Antwort jetzt: Dieses Gefühl der Scham ist keine "Ausübung" der Religion im engeren Sinne, schon gar keine rituelle, gottesdienstliche oder sonst wie von der religiösen Gemeinschaft vorgeschriebene und praktizierte Handlung - sondern einfach eine Begegnung des religiös erzogenen oder gestimmten Menschen mit dem säkularen Alltag.

Zu diesem Alltag gehören hier und heute aber auch Werbeplakate für Bademode im öffentlichen Raum, denen nicht zu entgehen ist, oder die Begeisterung anderer Schülerinnen für "Germany's Next Topmodel", was immer man davon hält. Im Übrigen schämen sich auch viele unfromme pubertierende Schüler in der Schwimmstunde - keineswegs nur vor dem jeweils anderen Geschlecht; im Sport- und Schwimmunterricht, zumal im koedukativen, ist der Anstoß des entblößten Körpers etwas, was jeder Schüler, nicht nur der stark religiöse, im Sinne seiner Persönlichkeitsentwicklung aushalten und verarbeiten muss.

Solche Kollisionen - den Sprung der Jugendlichen ins kalte Wasser - sieht das Leipziger Gericht, mit bestimmten Kompromissen bei der Kleiderordnung, auch für muslimische Schülerinnen als zumutbar an. Gleiches gilt für die schulische Vorführung eines Films mit magischen Motiven, an deren Wahrheit ein Schüler nicht glauben mag - das Ansinnen, dass ein Mitglied der "Zeugen Jehovas" von einer solchen Kinostunde befreit werden könnte, wurde in einem parallelen Verfahren in Leipzig ebenfalls abgewiesen. Hätte man ihm stattgegeben, könnte man sich auch gleich von der "Faust"-, der "Hamlet"- oder der Grimms-Märchen-Lektüre aus Glaubensgründen abmelden.

Zwar hat fast jede Religion ursprünglich einen Totalanspruch, der sich auf das ganze Leben in der Gesellschaft bezieht. Doch diesen Anspruch, so befindet der Philosoph Jürgen Habermas, "muss eine Religion aufgeben, sobald sich in pluralistischen Gesellschaften das Leben der religiösen Gemeinde vom Leben des größeren politischen Gemeinwesens differenziert". Dazu gehört nicht zuletzt der staatliche Erziehungsauftrag inklusive Schulpflicht, die als solche ja schon in die Lebensgestaltung aller Familien mit ihren jeweiligen Prägungen eingreift.

Dieser Auffassung schließt sich das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil an: "Die Schulpflicht", so die Richter, "steht nicht unter dem Vorbehalt, dass die Unterrichtsgestaltung die gesellschaftliche Realität in solchen Abschnitten ausblendet, die im Lichte individueller religiöser Vorstellungen als anstößig empfunden werden mögen." Und ferner heißt es: "Eine Gestaltung des Unterrichts, die jeder Glaubensvorstellung Rechnung trägt, ist nicht praktikabel." Klingt einleuchtend - doch es bleibt abzuwarten, ob das Urteil die erhoffte befriedende Wirkung haben wird.

© SZ vom 13.09.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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