Mythos Pausenbrot:Gib Stulle!

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Simpel? Von wegen! Pausenbrote sind eine trickreiche Angelegenheit. (Foto: iStock)

Nervennahrung, Schulhof-Währung, Symbol elterlicher Zuneigung: Das alles findet sich zwischen den Deckeln einer Brotdose. Pünktlich zum neuen Schuljahr die wichtigsten Fragen und Antworten zum wohl komplexesten Lebensmittel der Welt - dem Pausenbrot.

Von Sarah K. Schmidt

Zwei Scheiben Brot, bestrichen mit etwas Butter, eine Scheibe Käse oder Schinken dazwischen, vielleicht noch ein Salatblatt - fertig ist das Pausenbrot. Die Zubereitung klingt einfach, doch die Sache ist komplex. Denn zwischen dem Boden und dem Deckel einer Brotdose findet sich so viel mehr als nur die Wurststulle und kernlose Weintrauben, Nutella-Toast und Babybell. Hier findet sich die Tauschwährung für den Schulhof, hier spitzen sich sämtliche Ernährungsfragen zu, hier kristallisiert sich elterliche Fürsorge.

Mit dem Start des neuen Schuljahrs beginnt in vielen Familien wieder der tägliche Kampf darum, welche essbaren Dinge in Ranzen oder Schultasche verschwinden. Zeit, die Fakten zu sortieren und mit einigen Mythen aufzuräumen.

Wie wichtig ist der Snack am Vormittag wirklich?

Sechs Stunden Schule, vielleicht noch Sportunterricht, Toben in der Pause - zwischen Frühstück und Mittagessen liegt oft eine lange und intensive Zeit. Thomas Ellrott ist Arzt und Professor an der Universität in Göttingen. Dort leitet er das Institut für Ernährungspsychologie. Er sagt: "Generell können Kinder noch nicht so gut Energie speichern wie Erwachsene - darum empfehlen die meisten Ernährungsfachgesellschaften eine Zwischenmahlzeit, um die Leistungsfähigkeit der Schüler zu erhalten."

Laut einer Forsa-Umfrage im Auftrag der Techniker Krankenkasse verlässt immerhin jedes sechste Kind das Haus mit leerem Magen. Speziell dann, wenn ein Kind zu Hause nicht gefrühstückt hat, sollten ihm die Eltern unbedingt Proviant für zwischendurch mitgeben, so der Experte.

Auch Silke Bartsch hält Pausenverpflegung aus ernährungsphysiologischer Sicht für sinnvoll. Die Professorin der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe forscht zum Thema Jugendesskultur. "Gerade wenn Schultage länger werden, ist das zweite Frühstück in der Schule eine wichtige Mahlzeit." Für Jugendliche, die erst spät ins Bett und in der Früh schwer wieder herauskämen, sei das Pausenbrot oft die erste Mahlzeit des Tages und deshalb nicht zu unterschätzen.

Welche Funktionen erfüllt das Pausenbrot?

Das Pausenbrot versorgt Schulkinder jedoch mit mehr als nur Nährstoffen und Energie: "Tatsächlich ist es Teil elterlicher Fürsorge, Wertschätzung und Zuwendung", ist Ellrott überzeugt. "Das Pausenbrot zeigt den Kindern 'Ich sorge und kümmere mich um dich!'" Geben Eltern ihren Kindern stattdessen Geld mit in die Schule, schätzten diese zwar größere Flexibilität, doch, so der Ernährungspsychologe: "Geld hat nicht die gleiche Zuwendungsqualität."

Laut Silke Bartsch müssen Eltern jedoch nicht zwangsläufig selbst Stullen schmieren: "Fürsorge kann gerade bei älteren Kindern auch das Zutrauen bedeuten, dass diese sich selbst versorgen können." Notwendige Voraussetzung hierfür sei ein gut gefüllter Kühlschrank. Ihr Rat an die Eltern: "Führen Sie Ihre Kinder Stück für Stück an die Zubereitung heran. Gestehen Sie ihnen Entscheidungsfreiheit zu." Ab einem gewissen Alter sollten sich Sohn und Tochter dann selbständig um ihre Pausenverpflegung kümmern: "Sonst kann es vorkommen, dass die Mutter auch ihrem 20-Jährigen noch das Brot belegt."

Bartschs Forschung zum Essverhalten von Kindern und Jugendlichen zeigt, dass über Pausenverpflegung außerdem Normen und Rollenmuster vermittelt werden. "Eltern drücken mit dem Pausenbrot aus, was sie unter einer guten Ernährung verstehen", so Bartsch. Auch ein geschlechtertypisches Ernährungsverhalten kristallisiert sich bei älteren Kindern heraus. Die Analyse von etwa 200 Pausenbrotdosen hat ergeben, dass Mädchen mehr Wert auf Obst und Gemüse legen, Jungen eher auf Wurstprodukte.

Für das Rollenverständnis der Kinder sei außerdem relevant, wer ihnen das Pausenbrot zubereitet: "Es sind signifikant weniger, aber es gibt sie: die Väter, die schmieren." Was gibt der Vater mit, was gibt die Mutter mit? Diese Frage prägt, so die Wissenschaftlerin. Generell hätten Eltern eine Vorbildfunktion: "Machen Sie sich Gedanken, wie Sie selbst mit Ihrer Pause umgehen. Nur ein Kaffee und eine Zigarette? So leben Sie Ihren Kindern keine gesunde Ernährung vor."

Was kommt in die Vesper-Box?

"Brot ist der praktische Klassiker", sagt Ellrott. "Es ist in jedem Haushalt vorrätig, der Belag lässt sich immer wieder variieren und es liefert wertvolle Energie." Klar, die Vollkorn-Variante sei natürlich am besten, doch allzu streng müssten Eltern das nicht sehen: Schließlich gebe es in Deutschland ein großes Angebot an Sorten. Ellrotts Trick, um Kindern Vollkornbrot schmackhaft zu machen, sind Sorten mit besonders feingemahlenem Korn, "quasi die Einstiegsdroge". Dazu noch ein Stück Obst oder Gemüse - fertig ist das Paket gegen das Vormittags-Tief.

Doch fixe Vorgaben möchte Ellrott nicht machen, er setzt - auch bei seinen eigenen Kindern - auf Abwechslung. Bleibt zum Beispiel vom Vortag ein Stück Pizza übrig, schmeckt dieses auch kalt noch lecker. Und auch gegen Süßes in Maßen hat der Ernährungspsychologe aus gesundheitlicher Sicht nichts einzuwenden: "Wenn wir gebacken haben, gibt es auch mal ein Stück Kuchen mit in die Schule."

Machen Klassenregeln Sinn?

In vielen Kindergärten und Kitas gibt es feste Regeln, was die Kinder zu essen mitbringen dürfen und was nicht. "Süßigkeiten sind häufig verboten - und das ist durchaus sinnvoll", sagt Ellrott. Aus Sicht der Einrichtungen sollen die verbindlichen Richtlinien vor allem Neid vermeiden. Den Eltern erspart das viel "Ich-will-auch-Hanuta"-Gequengel. "Zumal bei 20 Kindern plus Erzieherinnen so viele Geburtstagskuchen zusammenkommen, dass es ohnehin viele Ausnahmen gibt", sagt Ellrott.

Je älter die Kinder werden, desto schwieriger werde es, Süßigkeiten auszusperren. Hat der Nachwuchs erst einmal Taschengeld zur Verfügung und kommt auf dem Schulweg beim Bäcker oder am Kiosk vorbei, bringen strikte Verbote meist nichts mehr. "Es sei denn, Lehrer, Eltern und Schüler vereinbaren gemeinsam eine neue Regel für die Klasse", weiß der Ernährungspsychologe.

Unangetastet kommt das liebevoll geschmierte Brot wieder in der Küche an. "Das schmeckt nicht", heißt es vom kritischen Kind. Die wichtigste Regel gegen Genörgel am Pausenbrot: "Lassen Sie Ihre Kinder mitreden beim Schulbrotmachen! Fragen Sie vor dem Einkaufen, was Ihr Sohn oder Ihre Tochter gerne drauf hätte", erklärt Ellrott. Klar dürften Eltern ab und an auch mal ungefragt etwas mitgeben - doch dann müssen sie mit Reklamationen rechnen. Das kennt der Vater von zwei Kindern im Alter von acht und elf Jahren nur zu gut: "Wenn ich den beiden die Schulbrote mache und zu viel experimentiere, heißt es mittags: 'Papa, was ist denn das gewesen?'"

Verweigert der Nachwuchs im Teenager-Alter grundsätzlich das Pausenbrot, ist das nicht zwangsläufig Grund zur Sorge, berichtet Ellrott: "Ältere Kinder müssen in der Schule nicht zwingend etwas essen, wenn sie gut gefrühstückt haben und dann vielleicht einen Kakao oder Trinkjoghurt in der Pause trinken." Silke Bartsch bestätigt: "Klar kann es vorkommen, dass Jugendliche so ihre Abgrenzung vom Elternhaus ausdrücken." Meist verpflege sich der Nachwuchs dann aber anderweitig: "Ich habe schon beobachtet, dass Jungs sich von den Mädchen mitversorgen lassen, die weiterhin brav ihr Pausenbrot mitbringen."

Manchmal kann sich hinter der Ablehnung der Vesperbox jedoch auch ein stark gezügeltes Essverhalten verbergen. "Gerade bei Mädchen ist das nicht selten", so die Einschätzung von Ellrott. Eltern sollten wachsam sein, dass sich daraus keine Essstörung entwickelt. ( Auf dieser Homepage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung sind Informationen und Hinweise zum Thema Essstörung zusammengestellt.)

Wie viel Aufwand muss sein?

Das mehrlagige Sandwich in Blumenform geschnitten, filigran geschnitzte Radieschen-Mäuse - der Kampf um den Titel der Supermamis und -papis wird in der Vesperbox entschieden. Einschlägige Ratgeberliteratur trägt Titel wie "Schlaue Kinder essen richtig! Clevere Ernährung für gute Noten" und suggeriert, dass allein die optimale Pausenverpflegung über den Erfolg in der Klassenarbeit entscheidet. Und wer will schon seinem Kind mit einer profanen Käsestulle (womöglich noch aus Weißbrot!) das Zeugnis vermiesen? Bartsch rät zur Gelassenheit: "Sie sollten es nicht übertreiben - und solch einen Riesenaufwand können Sie eh nicht durchhalten. Wichtiger ist, aus der Pausenbrot-Zubereitung ein tägliches Ritual zu machen."

Ellrott stimmt ihr zu: "Essen sollte eine leckere Selbstverständlichkeit und kein künstlicher Krampf sein." Ein bisschen Tricksen ist natürlich erlaubt: "Gerade Obst und Gemüse essen Kinder lieber, wenn es geschnitten ist." Doch auch wer keine Zeit, zum Schmieren oder Schnippeln hat, riskiert nicht das leibliche und geistige Wohlergehen des Nachwuchses. Der Ernährungsexperte empfiehlt Trockenobst, Fertigjoghurts oder auch mal einen Müsliriegel. "Entscheidend ist, was im Mittel über einen längeren Zeitraum gegessen wird. Da hat man Spielraum für Ausnahmen dann und wann."

Wie vespern andere Länder?

Das Pausenbrot ist tatsächlich ein Phänomen des deutschsprachigen Raums. "Das ist historisch bedingt", erklärt Ellrott. An deutschen Schulen gab es keine Verpflegung, so hat es sich eingebürgert, dass Eltern ihren Kindern etwas mitgeben. In anderen Ländern sorgen sich Staat und Schulkantine um das kulinarische Wohlergehen ihrer Kinder. Die Eltern in Österreich plagen allerdings dieselben Sorgen und Mühen wie die deutschen Eltern - nur, dass das Ganze dort "Jause" heißt. Die cleveren Schweizer haben extra ein "Pausenbrötli" erfunden - viele Bäckereien bieten dort spezielle Vollkornbrötchen mit Nüssen und Rosinen an.

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