Süddeutsche Zeitung

Mobbing in der Schule:Die Opfer sind auch Täter

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Jugendliche, die von ihren Mitschülern bloßgestellt und drangsaliert werden, gelten als hilflos und unschuldig. Dass das oft nicht stimmt, zeigt jetzt eine Studie aus Schweden. Demnach sind viele Mobbing-Opfer selbst Täter.

Felix Berth

Carola war 13 Jahre alt, als sie mit ihren Eltern zur Psychotherapeutin kam. Sie wurde in der Schule gemobbt und berichtete in der Praxis von alltäglichen Qualen: Andere Schüler erzählten Lügengeschichten über sie, tuschelten, hänselten sie. "Ich bin eine totale Außenseiterin", sagte Carola. "Morgens, wenn ich zur Schule muss, ist mir regelmäßig schlecht." Dabei sei es ihr so wichtig, gute Freunde zu haben. Für die Eltern war es schrecklich: Ihr Kind wurde Opfer seiner Mitschüler und war ihnen jeden Tag aufs Neue ausgeliefert.

Carolas Erlebnisse haben die Therapeutinnen Inge Seiffge-Krenke und Nicole Welter beschrieben. Allerdings betonen die beiden, dass die Schuldfrage nicht immer einfach zu klären sei: "Ein Opfer ist nicht immer nur Opfer", sagt Seiffge-Krenke. Dies bestätigt auch eine neue Studie aus Schweden. Der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Melzer von der Technischen Universität Dresden hat festgestellt, dass jedes fünfte Mobbing-Opfer andere Kinder drangsaliert und quält.

Mobbing ist in der Bundesrepublik alltäglich. Am häufigsten trifft es Jugendliche zu Beginn der Pubertät; solange sie jünger sind, werden sie häufiger Opfer von körperlicher Gewalt. Melzer fand heraus, dass etwa fünf Prozent aller Jugendlichen von sogenanntem Bullying (das englische Bully bedeutet Fiesling) betroffen sind, bei dem sie wochen- und monatelang sadistisch von ihren Mitschülern gequält werden.

Deutlich mehr als diese fünf Prozent werden Opfer von Mobbing in weniger schwerer Form. Fast jeder fünfte Schüler gab bei einer Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen an, dass er in der Woche vor der Befragung von Mitschülern bloßgestellt worden sei; etwa ein Drittel berichtete von Beleidigungen und Hänseleien.

Erwachsene halten diese Jugendlichen üblicherweise für unschuldig. Eltern wünschen sich eine Stärkung ihrer Kinder und würden vehement bestreiten, dass ihre Söhne und Töchter an der Entstehung des Mobbings einen Anteil haben. Die Schüler allerdings sehen das anders: In einer aktuellen Befragung in Schweden gaben fast siebzig Prozent der 15- und 16-Jährigen dem Opfer zumindest eine Mitschuld. Zum Beispiel fiel ihnen auf, dass die Betroffenen häufig das Bedürfnis hätten, "Macht, Status und Beliebtheit zu sichern".

Das wirkt auf den ersten Blick wie eine Schutzbehauptung gemäß dem Motto "Wer betroffen ist, hat selber Schuld". Die Therapeutinnen Seiffge-Krenke und Welter halten das jedoch nicht für ausgeschlossen. Bei der 13-jährigen Carola stellten sie in einer langen Psychotherapie fest, dass das Mädchen anfangs kein Gefühl für die eigenen Aggressionen hatte: Immer wieder drängte es sich in Freundschaften von Mitschülern, immer wieder machte es anderen Mädchen den Freund abspenstig. "Erst als sie erkannte, dass das ziemlich aggressive Taten sind, änderte sich ihre Beziehung zu Gleichaltrigen", erzählt Seiffge-Krenke.

Wie häufig Mobbing mit solchen verdeckten Aggressionen der Opfer zusammenhängt, ist nicht untersucht. Seiffge-Krenke warnt davor, extreme Formen wie "Bullying" damit zu entschuldigen: Werde ein Schüler monatelang gequält, sei er dafür keinesfalls verantwortlich. Doch in vielen Fällen in ihrer Praxis als Therapeutin und Supervisorin sei das Phänomen feststellbar gewesen. Dann sei ein Selbstbehauptungskurs für das Kind weniger sinnvoll als der Blick auf dessen eigene Aggressionen.

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Quelle:
SZ vom 13.11.2010
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