Mittelstufe Plus am Gymnasium:Das geschenkte Jahr

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Handwerker in der Schule sind eine der wenigen Gemeinsamkeiten des Pirckheimer-Gymnasiums in Nürnberg und des Dillinger Sailer-Gymnasiums. (Foto: P. Roggenthin, S. Puchner)
  • 47 bayerische Gymnasien haben die Testphase der Mittelstufe Plus gestartet: Teilnehmende Schulen können die Mittelstufe von drei auf vier Jahre verlängern und damit wieder ein G 9 anbieten.
  • Die SZ wird zwei dieser Schulen während des Pilotprojekts begleiten: Die Schulen in Nürnberg und Dillingen starten mit sehr unterschiedlichen Vorausssetzungen.

Von Anna Günther, Dillingen/Nürnberg

Darauf setzen alle Anhänger des neunstufigen Gymnasiums ihre große Hoffnung: Mittelstufe Plus, so heißt der Pilotversuch der Staatsregierung. Seit wenigen Tagen haben die ersten bayerischen Schüler wieder neun Jahre Zeit bis zum Abitur. Ihre Mittelstufe dauert vier Jahre, im G 8 sind es drei. Erst in der elften Klasse werden die Gruppen wieder zusammen lernen. Zwei Jahre lang untersucht das Kultusministerium das Projekt nun an 47 Gymnasien, diese sollen Bayerns Schullandschaft abbilden und in der Testphase Schwachstellen aufzeigen.

Mit dem Projekt reagiert die Staatsregierung auf die anhaltende Kritik am G 8. Denn auch elf Jahre nach der Stoiberschen Gymnasialreform schwelt immer noch der Streit über deren Sinn und Unsinn. Eltern, Schüler und Lehrer wünschen sich mehr Zeit und vor allem Ruhe. Diese Entspannung soll nun der Pilotversuch Mittelstufe Plus bringen. Aber, darauf legt die CSU Wert, ein Zurück zum G 9 ist das nicht.

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Zwei dieser Schulen wird die SZ in der Pilotphase besonders intensiv begleiten: Das Nürnberger Pirckheimer-Gymnasium und das Johann-Michael-Sailer-Gymnasium in Dillingen an der Donau unterscheiden sich besonders durch ihr Umfeld und die Schüler. Das Pirckheimer gilt als eines der jüngsten Gymnasien Nürnbergs. Der Ziegelbau aus den Fünfzigerjahren steht an einer stark befahrenen Straße, die Trambahn hält vor der Tür. Die Nürnberger Südstadt ist ein klassisches Arbeiterviertel, viele Bewohner sind Einwanderer. Lehrer müssen dort oft ausgleichen, was die Eltern nicht leisten können.

Dillingen ist eine Kreisstadt in einem prosperierenden schwäbischen Landkreis. Nur wenige Migrantenkinder besuchen das Gymnasium, die Übertrittsquote liegt im Landkreis bei 29 Prozent. Realschulen sind auf dem Land anders als in den Städten echte Konkurrenz. Ein Fünftel der Grundschüler im Landkreis lernt lieber dort, obwohl sie die Noten fürs Gymnasium hätten.

Fast 60 Prozent der Schüler wählten die Mittelstufe Plus

Kurt Ritter bezeichnet die Realschule sogar als "stärkste Säule im Schulsystem". Im Unterton des Dillinger Schulleiters klingen Frust und Anerkennung mit. Gerade die Sorgen wegen der Anforderungen des G 8 hatten viele Eltern in der Vergangenheit davon abgehalten, ihre Kinder aufs Gymnasium zu schicken, sagt er. "Wir haben alles versucht, ohne Erfolg." Entsprechend groß war der Ansturm auf das Pilotprojekt: drei Viertel der Siebtklässler meldeten sich an. Ritter musste offensiv werben, um noch eine G-8-Klasse in der achten Jahrgangsstufe zu erhalten.

Dillingen ist kein Einzelfall: 59 Prozent aller Schüler an den Pilotschulen wählten die Mittelstufe Plus, an einer sind es sogar 90 Prozent - weit mehr als im Ministerium erwartet. Besonders verlockend ist der Wegfall des Nachmittagsunterrichts in drei von vier Plus-Jahren. Denn die Schulwege sind lang. Wenn der Landkreis den Fahrplan ändert, kommen ganze Gruppen morgens zu spät oder nachmittags kaum heim. "Das ist ein großes Problem", sagt Ritter.

In Nürnberg ist das kein Thema, Elke Hermann will die Kinder sogar so lange wie möglich in der Schule halten. Auch die Guten sollen so mehr Unterstützung bekommen, sagt die stellvertretende Schulleiterin des Pirckheimer-Gymnasiums. 20 ihrer 48 Plus-Kinder stammen aus Einwandererfamilien. Gerade in Deutsch, Mathe und Fremdsprachen sollen sie langsamer lernen dürfen, Wiederholungsphasen werden dazwischen eingebaut, damit der Stoff auch sitzt.

Ohnehin ist die dritte Fremdsprache in der achten Klasse anspruchsvoll, denn für viele Schüler am Pirckheimer ist es die vierte oder gar fünfte Sprache. Ihre Muttersprache ist nicht Deutsch. In der Unterstufe werde das im Ganztagsunterricht aufgefangen, sagt Hermann, "aber wir verlieren viele Kinder in der Mittelstufe. Hätten wir so weitergemacht wie bisher, wäre das nicht aufzufangen." Mit der Teilnahme an dem Projekt könne sich die Stadtschule Gehör verschaffen. Die Entscheidung im Lehrergremium fiel knapp aus, weil damit wieder einmal Mehrarbeit verbunden ist. Doch Schule für die Kinder zu gestalten widerspreche zuweilen dem Wohlbefinden der Lehrer, sagt die 40-Jährige.

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Auch ihr Dillinger Kollege Kurt Ritter hofft auf Entlastung im Sprachenzweig. "Mit langsamerem Lernen machen Sprachen mehr Spaß", sagt der 58-Jährige. Darauf seien auch seine Lehrer angesprungen. "Und die Schüler haben mehr von ihrer Jugend." Das Engagement für Kirche, Vereine und Kultur sei im G 8 viel zu kurz gekommen. Das ist kein Land-Phänomen: Auch in Nürnberg gehen deshalb einige gute Schüler in die Plus-Klassen.

Ein Problem deutet sich bei beiden bereits an: ohne zusätzliches Budget, wie vom Ministerium gefordert, lässt sich das Projekt nicht umsetzen. Die Organisation parallel zum G 8 ist kompliziert. Je mehr Zweige eine Schule hat, desto schwieriger ist es. Doch für kleine Gruppen fehlt Geld. "Das wird auf Dauer eine große Herausforderung, und je mehr Plus-Klassen es gibt, desto komplizierter wird die Planung", sagt Elke Hermann. Um Lehrer zu sparen und Splittergruppen zu vermeiden, können die Schulen sogar Plus- und Regelklassen zusammen unterrichten. Kurt Ritter sieht darin einen Widerspruch zum Grundgedanken der Mittelstufe Plus: Der Stoff soll über vier Jahre gestreckt werden. "Ohne Streckung macht die Mittelstufe Plus keinen Sinn, dann hängen die nur ein Jahr länger an der Schule rum", sagt Ritter.

Ob der Andrang von Dauer ist, wird sich bald zeigen: Noch 2015 fragen die Schulen die Anmeldungen für den zweiten Plus-Jahrgang ab. Schon im Dezember sollen die 47 Gymnasien ihre Erfahrungen ans Ministerium melden. Anfang 2016 muss das Ministerium den Vorschlag für den Landtag erarbeiten. "Das ist sehr, sehr sportlich", sagt Ritter. Die Testphase dauert dann noch anderthalb Jahre. Zwar betont die Staatsregierung immer wieder, noch sei keine Entscheidung gefallen, doch es scheint sicher zu sein: Das neunjährige Gymnasium kommt zurück.

© SZ vom 26.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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