Medizinstudium:Dr. med. zu Leichtgemacht

Simulationszentrum für Medizinstudenten in München, 2014

Die meisten angehenden Mediziner wollen klinisch arbeiten. Statt auf ihre Doktorarbeit konzentrieren sie sich deshalb auf die Praxis - wie hier bei einer OP-Simulation.

(Foto: Stephan Rumpf)

Medizinstudenten in Deutschland lernen kaum, wie wissenschaftlich gearbeitet wird. Deshalb sollen sie nun mehr schreiben - oder das Promovieren lassen.

Von Laetitia Grevers

Wenn ältere Patienten mit ihrem Arzt sprechen, dann ist der Name des Mediziners meist Nebensache. Die Anrede lautet sowieso "Herr Doktor" - das passt immer. Zwar ist der Doktor keine Berufsbezeichnung, sondern ein akademischer Grad, den Studenten in unzähligen Fächern erwerben können. Doch in der Alltagssprache ist die Nähe zur Medizin so groß, dass selbst der Duden den Doktor als Synonym für Arzt anerkennt. Umso schwerer wiegt es da, dass der "Dr. med." gerade wieder heftig in der Kritik steht.

Die Promotion zum Doktor der Medizin wird schon seit Jahren kontrovers diskutiert - weil viele Arbeiten nicht gut gemacht sind und die Wissenschaft kaum voranbringen. Selbst der Wissenschaftsrat, das höchste Beratungsgremium der Bundesregierung in wissenschaftspolitischen Fragen, stellte schon 2004 fest, dass die Arbeiten in Medizin in der "weit überwiegenden Zahl der Fälle" nicht den Standards anderer naturwissenschaftlicher Fächer entsprechen.

Nun nährt eine Plagiatsaffäre an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster neue Zweifel: Nach langer Prüfung wurde acht Medizinern Ende Februar der Doktorgrad entzogen, weil sie abgeschrieben hatten. Mehr als ein Dutzend weitere Absolventen bekamen eine Rüge, durften ihren Doktor aber behalten. Und ein Professor, der mindestens zwei betroffene Mediziner bei ihrer Promotion betreut hatte, wurde mit einem Verbot belegt - er darf keine weiteren Doktoranden mehr betreuen.

Doktorarbeiten werden nach Feierabend geschrieben

"Ohne Promotion in eine leitende Position zu kommen, ist eine Rarität. Erst recht gilt das für Universitäten und Krankenhäuser", sagt Rudolf Henke, der Vorsitzende der Ärztegewerkschaft Marburger Bund. Die Promotion in Medizin wird hierzulande noch immer vielfach erwartet - von Patienten und Kollegen gleichermaßen. Derzeit beenden 60 Prozent der Mediziner ihr Studium mit einer Promotion. Doch im Gegensatz zu allen anderen naturwissenschaftlichen Fächern schreiben sie diese fast immer nebenbei, entweder im Studium oder parallel zur Facharztausbildung im Krankenhaus - nicht selten geht das zulasten der Qualität.

Dazu kommt: Mediziner lernen an der Uni kaum, wie man wissenschaftlich arbeitet - also zum Beispiel das Forschungsziel eingrenzt, den Forschungsstand erfasst und im Text korrekt zitiert. Das alles verlangt eine Doktorarbeit den Kandidaten ab. Doch anders als in anderen Fächern schreiben Medizinstudenten keine Hausarbeiten, in denen sie das im Kleinen üben. Die Doktorarbeit ist oft die erste (und einzige) wissenschaftliche Arbeit, die ein Arzt je verfasst. "An zahlreichen Unis in Deutschland ist die Vorbereitung auf das wissenschaftliche Arbeiten in der Medizin gering", sagt Beatrix Schwörer, Leiterin der Abteilung Medizin im Wissenschaftsrat.

Zwar gibt es auch in der Medizin Studenten, die für ihre Dissertation jahrelang im Labor stehen und später Arbeiten auf höchstem Niveau abliefern. Doch das bleibt die Ausnahme. Viele Arbeiten sind rein statistische Auswertungen, denen Kenner rasch anmerken, dass sie ohne großen Zeitaufwand entstanden sind.

Es verwundert daher nicht, dass der deutsche "Dr. med." im internationalen Vergleich eher schlecht abschneidet. In Europa wird die durchschnittliche medizinische Promotion aus Deutschland als eine Art Diplomarbeit gesehen, der hiesige "Doktor der Medizin" ist darum nicht auf gleicher Stufe wie der international anerkannte "Philosophiae Doctor", kurz Ph. D. Die fehlende internationale Anerkennung erschwert es wiederum den deutschen Medizinern mit wissenschaftlichem Anspruch, international anerkannt zu werden.

Bertram Otto von der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland (BVMD) hält das für ein großes Problem. "Uns Studenten verschließt diese Situation viele Türen, sie hindert uns zum Beispiel daran, uns für Förderprogramme zu bewerben", sagt er. Deshalb fordert der Verband, in Deutschland das sogenannte Berufsdoktorat einzuführen: Jeder Student, der sein Medizinstudium abschließt, bekäme automatisch einen Doktor.

Kommt der Doktortitel ohne Doktorarbeit?

Alle jene, die darüber hinaus auch die Wissenschaft voranbringen wollen, sollen wiederum einen anderen Doktorgrad erhalten - einen, der dann auch "international Anerkennung findet", sagt Otto. Vorbild könnten die USA sein: Wer dort das obligatorische Berufsdoktorat erwirbt, führt den "M. D." hinter dem Namen, wer darüber hinaus eine Forschungsarbeit leistet, bekommt den renommierteren "Ph. D.".

Völlig offen ist jedoch, wie diese Logik eines Berufsdoktorats mit der deutschen Wissenschaftstradition vereinbart werden kann. Denn hierzulande gilt der Doktorgrad - ganz gleich, in welchem Fach - als Ausweis einer eigenständigen wissenschaftlichen Leistung. Einen wie auch immer gearteten Doktorgrad lediglich für ein bestandenes Examen zu vergeben oder für eine Arbeit, die das Fach nicht voranbringt, würde wohl an vielen Fakultäten des Landes als Tabubruch gewertet.

Dabei sind die Medizinstudenten mit ihrer Forderung nach einem Berufsdoktorat nicht allein. Der deutsche Wissenschaftsrat setzte sich schon vor mehr als zehn Jahren für ein solches Modell ein - doch die Vereinigungen der Medizinfakultäten sowie der Hochschulrektoren erteilten der Idee rasch eine Absage.

Weil das Konzept eines Berufsdoktorats für angehende Ärzte in Deutschland derzeit nicht mehrheitsfähig ist, haben sich Medizinstudenten und Wissenschaftsrat etwas anderes überlegt: Anstatt die Doktoranden mit ihrer Arbeit quasi allein im stillen Kämmerlein zu lassen, sollen die Universitäten mehr strukturierte Promotionsprogramme anbieten - also Studiengänge, die in einer vorgegebenen Zahl von Semestern zur klassischen Promotion führen. Wie das Berufsdoktorat, so kommt auch die sogenannte "graduate school" aus dem englischen Sprachraum: Seminare und Mentoring-Programme sollen die Doktoranden beim Schreiben unterstützen.

Mehr Schreibtraining im Studium

Hans-Jochen Heinze, bis vor Kurzem Vorsitzender des Ausschusses Medizin im Wissenschaftsrat, schlägt vor, dass die Studenten schon im Studium zwei wissenschaftliche Arbeiten schreiben sollen und diese dann, nach Abschluss eines zusätzlichen Trainings, zu einer Doktorarbeit ausbauen. Einige Fakultäten haben derlei Anregungen schon aufgenommen. In Tübingen und Dresden gibt es strukturierte Promotionsprogramme, in Magdeburg wird gerade eines eingeführt. "Bis jetzt stößt die Umsetzung bei den Studenten auf viel Zustimmung", meint Heinze. Der "Dr. med.", sagt er, soll aber auch in den strukturierten Promotionsprogrammen nur jenen Absolventen verliehen werden, die mit ihrer Arbeit eine Forschungslücke schließen - in anderen Fächern ist dieser Anspruch ganz selbstverständlich. Nach welchen Kriterien dann die guten von den unzureichenden Schriften unterschieden werden, ist noch offen.

Im Jahr 2015 beendeten 7322 Mediziner ihre Ausbildung mit einem Doktor. Das sind 60 Prozent der Medizinstudenten und 25 Prozent aller Promovierten. Eine Umfrage des BMVD hat ergeben, dass die Promotion vielen Medizinstudenten sehr wichtig ist; sie glauben, dass er von den Patienten erwartet wird.

Andere sehen eher kein Problem darin, wenn der Anteil der Promovierten in Zukunft zugunsten der Qualität der Arbeiten abnehmen würde - die Gefahr, dass gar das Ärzte-Patienten-Verhältnis leiden könnte, wenn immer weniger Mediziner einen Doktorgrad auf dem Praxisschild führen, sieht man beim Wissenschaftsrat nicht. Im Gegenteil, sagt Hans-Jochen Heinze: "Die Zeit, die für eine Promotion gebraucht wird, kann von vielen angehenden Ärzten stattdessen in den Umgang mit Patienten gesteckt werden." Nach Ansicht des Ärztegewerkschafters Rudolf Henke hat die Kompetenz eines Arztes in der Patientenbetreuung nichts damit zu tun, ob der Mediziner promoviert ist oder nicht.

Gut möglich also, dass die deutschen Ärzte in Zukunft immer seltener einen Doktorgrad haben. Ob das die Patienten davon abhält, ihren Arzt im Behandlungszimmer trotzdem noch mit "Herr Doktor" anzusprechen, ist eine andere Frage.

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