Matheunterricht:Schafft die traditionellen Schulfächer ab!

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Der klassisch-abstrakte Mathematikunterricht wird von vielen Schülern als öde empfunden (Foto: dpa)

Dafür plädiert ausgerechnet ein Professor der Mathematik - und fordert stattdessen Klimawandelkunde.

Gastbeitrag von Christian Hesse

Das Problem ist gravierend und hat sich schleichend aufgebaut: Ein beachtlicher Teil der Studienanfänger in den Mint-Disziplinen zeigt erhebliche Lücken bei grundlegenden mathematischen Kenntnissen. Liegt das an den Lehrplänen der Schule?

An der Mathematik erhitzen sich immer wieder die Gemüter. Das war vor einem guten halben Jahrhundert so, als mit der Mengenlehre neue Wege der Didaktik beschritten wurden. Jetzt betrifft es die nach dem Pisa-Schock eingeführte Kompetenzorientierung. Mit ihr wird größeres Gewicht auf die Anwendung von Fachwissen gelegt, übrigens nicht nur in Mathematik. Auch in Englisch hat sie den Unterricht modernisiert und die Fähigkeiten der Schüler im Schnitt spürbar verbessert. Neuerdings wird das Augenmerk stärker darauf gelegt, dass die Lernenden in einer Fremdsprache kommunizieren können, und weniger darauf, dass sie alle Aspekte ihrer Grammatik parat haben.

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In einem Gastbeitrag für diese Zeitung hatte ich die Forderung einiger Mathematik-Didaktiker, wieder mehr Gewicht auf abstraktes Fachwissen zu legen, als rückwärtsgewandt bezeichnet. Erstens vermittelt der von vielen Schülern als öde empfundene klassisch-abstrakte Mathematikunterricht ein verzerrtes Bild dieser Disziplin. Im Kern ist Mathematik eben kein Hantieren mit abstrakten Formalismen. Mathematik ist "Ideologie": die Lehre von den "Ideen". Es ist die Kunst, Rechnen durch Denken überflüssig zu machen.

Zweitens haben die erwähnten Wissenslücken ihre Ursache nicht in der Kompetenzorientierung. Durch sie haben sich die mathematischen Pisa-Leistungen deutscher Schüler deutlich verbessert. Genau gesehen sind größere Wissenslücken bei Studienanfängern nicht überraschend, bedenkt man, dass im letzten Jahrzehnt die Schulzeit um ein Jahr verkürzt wurde. Zusätzlich wurde der Stundenumfang des Mathematikunterrichts schleichend verringert. Das ist eine ungute Entwicklung, für deren Trendumkehr sich mein Beitrag unter der Überschrift "Mehr Gauß, weniger Goethe" starkgemacht hat.

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Naturgemäß rief diese plakative Formel zahlreiche Befürworter qualitativer Kompetenzen auf den Plan, die meine Thesen meist sachlich, teils aber auch mit verzichtbaren Zuspitzungen kritisierten. Wenn die "Quants", wie die Inhaber quantitativer Kompetenz im englischen Sprachraum genannt werden, in einigen Leserbriefen mit "kleinen Mephistos" verglichen werden, ihre Tätigkeit als "number-crunching" bezeichnet und ihnen implizit ein Mangel an Empathie attestiert wird, handelt es sich um realitätsferne Polemiken. Es sind Überzeichnungen des Klischees vom "Nerd", das offenbar immer noch gegenüber den Mint-Vertretern besteht.

Generell ist feststellbar, dass in Deutschland ein mathematik-intolerantes Klima herrscht, das sich anderswo, ob in Frankreich, Indien oder Skandinavien, nicht findet. Im Land der Dichter und Denker haben viele zuallererst philosophische Denker wie Hegel oder Heidegger vor Augen - Vertreter des Qualitativen. Erst in zweiter Linie wird an quantitative Denker wie Gauß oder Einstein gedacht. Der Graben zwischen den Kulturen des quantitativen und qualitativen Denkens scheint sich in den letzten Jahrzehnten vertieft zu haben. Dabei muss er eigentlich mit gegenseitigem Respekt überwunden werden, unter anderem mit interdisziplinärem Schulunterricht. Darauf zielt mein Vorschlag ab.

In einer globalisierten, stark vernetzten Welt sind auch die benötigten Kompetenzen stark interdisziplinär vernetzt. Dieser Tatsache muss die gymnasiale Oberstufe durch Abschaffung der traditionellen Schulfächer und Einführung von thematischen Modulen Rechnung tragen. Modulen wie etwa "Klimatischer Wandel", bei dem biologische, physikalische, chemische, mathematische und historische Aspekte diskutiert werden. Oder "Regierungsformen", wo politische, historische, philosophische und ethische Belange relevant sind. Zudem könnte der Unterricht, wenn es um das Regierungssystem der USA oder Großbritanniens geht, auf Englisch abgehalten werden.

Um noch konkreter und jetzt mathematisch zu werden, könnte das Modul "Vektoren" zunächst diese mathematischen Objekte definieren, das benötigte Fachwissen behandeln und aufzeigen, welche Arten des Rechnens es mit Vektoren gibt. Dann könnte demonstriert werden, welche Anwendungen Vektoren haben - etwa bei der Frage, wie Ameisen mit speziellen Vektorneuronen in ihren kleinen Gehirnen Vektoraddition betreiben, wenn sie von ihrem Nest einen zickzackförmigen Suchverlauf zur Beute durchführen und anschließend auf geradem Wege zurück zum Nest gelangen. Die Natur ist generell ein hervorragender Beispiellieferant für faszinierende Anwendungen mathematischer Prinzipien.

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Diese Art der mathematischen Wissensvermittlung denkt die gegenwärtige Kompetenzorientierung in den Bildungsstandards, die bildungspolitisch ein Schritt in die richtige Richtung ist, konsequent und radikal weiter. Durch die Entfachlichung der Lehrinhalte macht sie Schluss mit dem Schubladendenken als Relikt früherer Jahrhunderte - es ist für modernen Schulunterricht nicht mehr zeitgemäß.

Die Modularisierung führt fast sicher zu einer stärkeren Lernmotivation der Schüler bei mathematischen Inhalten, da sie diese mit Anwendungen aus der modernen Lebenswelt verbindet. Auf diese Weise verhindert sie bei Schülern und deren Eltern die ewige Widerkehr derselben Frage gegenüber abstrakten mathematischen Themen, die da lautet: "Wofür braucht man das?"

Wenn ich auch keinesfalls einer völligen Nutzen- und Anwendungsorientierung das Wort reden will, so hat ein zu hoher Abstraktionsgrad im Mathematikunterricht zu häufig dazu geführt, dass große Teile der Schülerschaft nicht nur das Interesse an dem Fach verloren, sondern mit Unlust bis hin zu Ängsten den Unterricht über sich ergehen ließen. Das, mehr als alles andere, führt dazu, dass große Teile der Bevölkerung nicht mehr über das für den modernen Alltag benötigte mathematische Wissen verfügen.

Christian Hesse lehrt Stochastik - die Mathematik des Zufallsgeschehens. Promoviert wurde er in Harvard, seit 1991 ist er Professor an der Universität Stuttgart. Nebenbei schreibt Hesse Bücher über Mathematik und Schach.

© SZ vom 02.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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