Mathematik in der Schule:Zahlen, bitte!

IGLU-Studie

Bis etwa zum zehnten Lebensjahr haben Kinder noch Spaß an Mathematik - danach wird sie für viele zum Horrofach.

(Foto: dpa)

Wer sich mit Zahlen nicht auskennt, wird früher oder später übers Ohr gehauen - heute mehr denn je. Umso bedenklicher, dass Mathe das meistgehasste Schulfach ist. Damit Kinder Lust am Rechnen haben, braucht es alltagsnahen Unterricht - und Schach.

Ein Gastbeitrag von Christian Hesse

Wie kann es sein, dass die Mathematik in unserer Gesellschaft ein so extrem zwiespältiges Bild bietet? Sie hat sich einerseits zur essenziellen Schlüsselkompetenz entwickelt. Ohne Mathematik würde kein Flieger fliegen, keine Ölbohrung fündig werden. Sie ist ein ungeheuer mächtiges Denkwerkzeug. Sie bringt Klarheit und Ordnung in das Durcheinanderland der Phänomene.

Wir Mathematiker sind zu Stuntmen fürs Komplizierte avanciert, unser Know-how ist gefragt, wenn andere aufgeben müssen. Zudem und nicht zuletzt ist die Mathematik eine sprudelnde Quelle intensiv spürbarer Schönheit. Sie ist ein leidenschaftliches Ringen um Wahrheit, das die Seele, das Herz und den Verstand erfreut und bei dem jeder hart umkämpfte Einblick Glückshormone freisetzt.

Mathematik hat die Fähigkeit, Menschen glücklich zu machen, wie die Liebe und die Musik.

Das meistgehasste Fach in der Schule

Andererseits zeigt sich immer, wenn es Zeugnisse gibt: Mathematik ist das meistgehasste Fach in der Schule. Wie kein anderes erzeugt es Ängste und ist für viele Schüler so frustrierend, dass sie nach der Schulzeit froh sind, ihr nie wieder allzu nahekommen zu müssen. Mir hat einmal jemand gesagt, schon bei der Mathematik der Jahrgangsstufe 9 habe er passen müssen. Jede Mathe-Stunde sei danach gruselig gewesen.

Als professioneller Mathe-Macher trifft man häufig auf Menschen, die damit kokettieren, dass sie in der Schule immer schlecht in Mathe waren - und dass dennoch etwas aus ihnen geworden ist. Diese Mathematikunkenntniskoketterie ist übrigens ein typisch deutsches Phänomen.

In den USA, Frankreich oder Finnland zum Beispiel hat die Mathematik ein positives Image; sie wird als großes Kulturgut geschätzt. Dort ist auch der Mathematikunterricht viel weniger abstrakt als in Deutschland. Die Lehrmaterialien sind spielerisch orientiert und nah am Leben, die Schüler wissen, wozu Mathematik gut ist. Mathe macht hier Spaß, ist spannend und unterhaltsam.

Leider muss man also die Misere der Mathematik und die Unbeliebtheit des Faches den Schulen und den Lehrplänen ankreiden. Denn das Mathematikbild fast aller Deutscher wird von der Schulmathematik geprägt. Und wenn die Einstellung der Mehrheit der Bevölkerung zur Schulmathematik derart negativ ist, dann muss sich die Schulmathematik ändern. Wir können es uns nicht leisten, Generationen von Schülern mehrheitlich den Spaß an der Mathematik zu vergraulen und viele mit einer Mathe-Phobie ins Leben zu entlassen.

Manipulationsversuchen schutzlos ausgeliefert

Unsere Gesellschaft braucht mehr Mathematik-Kompetenz in einer komplexer werdenden Welt. Alle Wissenschaften sind heute mathematisiert, und auch der Alltag ist gespickt mit quantitativen Informationen, die wir deuten müssen - und zwar richtig. Unsere moderne Welt, in der es mehr Zahlen als Wörter gibt, kann ohne Mathematik nicht mehr verstanden werden.

Wer sich mit Zahlen nicht auskennt, wird früher oder später übers Ohr gehauen werden - das war immer so. Heute aber ist der Mathematik-Analphabet darüber hinaus schutzlos den Manipulationsversuchen durch Daten, Grafiken und Statistiken ausgeliefert - auch die Demokratie braucht die Mathematik, wenn sie funktionieren soll. Wer das nicht bedenkt, wird öfter mal schlechte Entscheidungen treffen, wenn auch gute möglich sind.

Was ist zu tun?

Was ist zu tun? Ansetzen sollte man bei den Mathematik-Lehrplänen der Schulen. Ihr Akzent liegt zu sehr auf der Einübung von Verfahren, ohne dass deren Bedeutung für andere Bereiche der Mathematik aufgezeigt wird oder gar ihr Bedeutung für andere Fächer und den Alltag. Mathematische Themen stehen nicht selten zusammenhanglos nebeneinander und werden auf Vorrat unterrichtet, verbunden mit dem Hinweis, dass irgendwann später klar werden würde, wofür man das braucht.

Und immer noch ist für viele Mathe-Lehrer ihr Fach das Fach des streng disziplinierten Frontalunterrichts. Dabei muss gerade der Mathe-Unterricht schülerfreundlicher werden, durch Gruppenarbeit an fachübergreifenden Projekten zum Beispiel, durch die Arbeit an realitätsnahen Problemen.

Es gib auch viele spielerische Zugänge zur Mathematik; und dann liefert die Natur einen unerschöpflichen Fundus, um an ihr mathematische Eigenschaften zu studieren. Es gibt Zikadenarten, deren Lebenszyklen immer Primzahlen sind - die also nur alle sieben, 13 oder 17 Jahre auftreten, weil sie so am ehesten die Jahre meiden, an denen sich ihre Feinde am stärksten vermehren. Es gibt Pflanzen, die ihre Blätter nach mathematischen Formeln anordnen, bis zu Ameisen, die Vektoraddition betreiben, um zurück zum Bau zu finden. Und natürlich basieren viele Zaubertricks, speziell mit Spielkarten, auf mathematischen Prinzipien.

Schach im Mathe-Unterricht

Ein besonders gutes pädagogisches Hilfsmittel ist das Schachspiel. Es fördert die Entwicklung des Gedächtnisumfangs und verbessert die Konzentrationsfähigkeit. Schach trainiert das logische Denken, regt die Phantasie an und kultiviert die schöpferische Kreativität. All dies sind Voraussetzungen, die man auch für mathematisches Problemlösen braucht.

Diese positiven Aspekte des Schachs können als Bereicherung des Mathematikunterrichts eingesetzt werden. Anderswo wir dies schon praktiziert: In mehr als 30 Ländern, zum Beispiel in Island, Russland und Venezuela, ist Schach bereits Teil des mathematischen Curriculums. Die Erfahrungen damit sind einhellig positiv. Schach ist ein schweres Spiel. Trotzdem haben Kinder typischerweise Freude am Schach. Sie merken, dass Schach Mühe bereitet, dass sie es aber lernen können, was wiederum ihr Selbstbewusstsein stärkt.

Es gibt also viele und sehr unterschiedliche Möglichkeiten, der Mathematik den Stachel des Abstrakten zu ziehen. Ja, Mathematik braucht Gedankendisziplin. Sie ist aber auch ein großartiges Spiel, an dem Schüler - und natürlich auch Erwachsene - Interesse und Motivation gewinnen und Spaß haben können.

"Alles geht immer so gut auf"

Studien haben gezeigt, dass Kinder bis etwa zum zehnten Lebensjahr meist auch noch Spaß an der Mathematik haben. In der Grundschule gilt Mathe noch nicht als Horrorfach. "Alles passt so schön zusammen und geht immer so gut auf", sagen mir Grundschüler auf die Frage, warum ihnen Rechnen gefällt. Danach jedoch, meist mit dem Wechsel zu den weiterführenden Schulen, ändert sich das Verhältnis vieler Schüler zur Mathematik. Es beginnt eine Spirale, die mit Angst und Schrecken endet. Das müssen wir vermeiden.

Mathematik ist "the sexiest discipline on the planet", hat der Wissenschaftsautor Simon Singh gesagt. Wollen wir das der Mehrheit der Bevölkerung vorenthalten?

Christian Hesse, 52, ist Professor für Mathematik an der Universität Stuttgart, Autor des Buchs "Warum Mathematik glücklich macht", Sachverständiger bei der Reform des deutschen Wahlrechts - und begeisterter Schachspieler.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: