Wenn sich Holger Vierke nach Männlichkeit sehnt, geht er gerne mal in den Keller. Dort, im Untergeschoss der Elbe-Grundschule in Berlin-Neukölln, wohnt der Hausmeister, ein ehemaliger Gewichtheber, einer, der den Türrahmen fast ganz ausfüllt, wenn er hindurchgeht. Dann trinken sie zusammen Kaffee und reden. Außer dem Hausmeister hat Vierke nicht viele männliche Kollegen. Kein Wunder, Holger Vierke ist Grundschullehrer.
"Ich arbeite seit 18 Jahren an dieser Schule. Am Anfang gab es noch eine ganze Menge Männer im Lehrerzimmer. Inzwischen sind wir noch zu dritt." Weil nur wenige Männer Grundschullehrer werden wollen, gibt es Einrichtungen, an denen gar kein Mann mehr arbeitet. In Berlin waren im vergangenen Schuljahr 14 Prozent der Grundschullehrkräfte männlich. Bundesweit sieht es ähnlich aus.
Vor 20 Jahren lag der Anteil männlicher Grundschullehrer noch bei einem Drittel. Heute sind sie eine aussterbende Spezies. Vierke ist zwar schon 18 Jahre im Job, aber er wirkt viel jünger mit seiner Vokuhila-Frisur, seinem Soul-Patch-Bärtchen und dem charmanten Lachen. Überhaupt nicht "aussterbende Spezies", eher "geschätzte Minderheit", so sieht er das.
"Es gibt keinen Konkurrenzdruck"
Es habe auch ganz klar Vorteile, in einem weiblichen Kollegium zu arbeiten: "Es gibt keinen Konkurrenzdruck. Wenn eine DVD nicht abspielt, wird man gerufen und gilt gleich als Experte." Und bei Partys muss man sich eher um das Programm kümmern als um den Abwasch: "Wenn ich dann trotzdem mal abwasche, ist das Erstaunen groß." Das gefalle ihm zwar, aber es wundere ihn auch, wie oft man noch auf "Rudimente der alten Rollenbildern" stoße: "Wenn wir an den See fahren, wer geht dann mit den Schülern ins Wasser? Natürlich der Herr Vierke!"
Das Interesse von Männern, Grundschullehrer zu werden, ist gering - wohl auch wegen der schlechteren Bezahlung: Ein Berliner Grundschullehrer verdient etwa 400 Euro weniger im Monat als sein Kollege am Gymnasium. Und es gibt kaum Karrierechancen und Aufstiegsmöglichkeiten. Zudem geht es an der Grundschule vor allem um pädagogische Fähigkeiten, reines Fachwissen ist nicht die Hauptsache. Das sind Gründe, warum männliche Studienanfänger sich eher für das Lehramt in der Sekundarstufe entscheiden. Dort ist der Männeranteil deutlich höher, an Gymnasien ist das Geschlechterverhältnis oft ausgewogen. Im Vorschulbereich findet man dagegen fast gar keine Männer.
Die wichtige Frage aber ist: Welche Auswirkungen hat die langfristige "Feminisierung der Grundschule" für die Schüler? Und, braucht es gar eine Männerquote an Grundschulen?
"Es ließ sich bisher nicht eindeutig nachweisen, dass es eine Benachteiligung von Jungen im Unterricht gibt, hervorgerufen durch das Überwiegen weiblicher Lehrkräfte", sagt Christoph Fantini, Bildungsforscher an der Universität Bremen. Das Problem sei zwar, dass die Bildungserfolge der Jungen seit Langem stagnierten. Nachweislich machen Mädchen heutzutage häufiger Abitur, sie haben auch bessere Noten - laut Untersuchungen selbst in Fächern, in denen sie im Durchschnitt geringere Kompetenzen haben als Jungen, etwa in Mathematik. Für diese viel zitierte "Jungenkrise" seien mehr Männer an Grundschulen aber allein keine Lösung, glaubt der Forscher. Viel wichtiger wäre eine "jungengerechte Pädagogik" - egal, ob im Klassenzimmer ein Lehrer oder eine Lehrerin steht.
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Denn selbst wenn es männliche Lehrkräfte an Schulen gibt, können Rollenmuster den Alltag beeinflussen. Das weiß auch Holger Vierke. Obwohl er Deutsch und Bildende Kunst als Schwerpunkte im Studium gewählt hatte, wird er für den Sportunterricht eingeteilt - weil er ein Mann ist. Nötige Kenntnisse dafür hat er sich mittlerweile angeeignet. "Viele Kolleginnen trauen sich die erforderlichen Sicherungsstellungen nicht zu, auch wegen des Alters."
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So verfestigt sich in den Augen der Kinder die klassische Rollenteilung: Körpernahe und handwerkliche Fächer werden von den wenigen männlichen Lehrern erklärt, kreative und soziale Fächer dagegen eher von den Lehrerinnen. Das Sichtfeld der Kinder für eine spätere Berufswahl wird so eingeengt.
Und im Unterricht? Werden Jungen von Lehrerinnen anders behandelt als Mädchen? Oder sogar benachteiligt, wie manche Forscher nachzuweisen versuchten?
"Vielleicht wurden die Jungs vernachlässigt"
"Ich glaube nicht, dass es Jungs bei Lehrerinnen schwerer haben. Aber früher wurde halt mehr für die Mädchen getan, damit sie gleichberechtigt werden. Vielleicht wurden die Jungs dadurch vernachlässigt", meint Vierke. Es gibt zum Beispiel Mädchen-AGs an der Berliner Elbe-Grundschule, die Idee von speziellen Jungen-Gruppen wurden mangels Interesse wieder aufgegeben.
Natürlich: Eine Männerquote löst noch nichts. Und trotzdem hält Bildungsforscher Fantini sie in speziellen Fällen für gerechtfertigt: "Grundschulen ohne männliche Fachkräfte dürfen als Dauerzustand nicht zugelassen werden." Eine "Pädagogik der Vielfalt", die auch Gender-Fragen einbezieht, würde sonst unmöglich gemacht werden. Bei mindestens zwei Männern pro Grundschule müsste die Quote liegen, damit ein "Exotenstatus" vermieden werden könne, sagt Christoph Fantini. Darüber hinaus müssten Lehrerinnen und Lehrer schon in der Ausbildung auf die spezielle Geschlechtersituation im Beruf vorbereitet werden.
"Die Kinder kommen ja bereits mit bestimmten Vorstellungen in der Grundschule an", sagt Vierke. "Die meisten Jungs hier stammen aus Haushalten, wo Männlichkeit einen anderen Stellenwert genießt. Die Mütter kümmern sich lange Zeit liebevoll um das leibliche Wohl. Wenn das Kind dann in die Schule kommt, heißt es: Zack, jetzt machst du dein Ding." Mit diesem Bruch zwischen Elternhaus und Schule kämen viele Jungs schwer zurecht und verarbeiteten das Problem mit trotzigem Benehmen. Vierke hat deshalb auch einen "Väterabend" ins Leben gerufen, um beide Eltern bei solchen Problemen einzubeziehen.
Mit einem Problem müssen männliche Grundschullehrer aber vermutlich leben: sie stehen viel eher im Verdacht, sexuellen Missbrauch zu begehen. "Mein Vater war auch Lehrer. Sein erster Rat war: Bleib nie allein mit den Schülerinnen", sagt Vierke. Der Mann stehe da unter Generalverdacht, und man müsse höllisch aufpassen. "Meine Kolleginnen finden es zum Beispiel völlig normal in die Umkleidekabine der Jungs zu gehen. Umgedreht wäre das unvorstellbar."
Letztlich sei das Engagement das Entscheidende, ist sich Vierke sicher "Wenn man jederzeit ein Ohr für die Kinder hat und für die Eltern, ist die Quote nebensächlich." Nun muss er auf den Schulhof zur Pausenaufsicht und kann das gleich beweisen. Als er auf den Hof kommt, hängen sich sofort vier Mädchen an seine Arme. "Herr Vierke, wo können wir spielen?" Herr Vierke spielt mit, ist doch klar.