Süddeutsche Zeitung

Lesen:Wegweiser im Wörterlabyrinth

Lesezeit: 3 min

Was beim Lesenlernen hilft - und welche Förderung eher gut gemeint als gut gemacht ist. Ein Gastbeitrag.

Von Heidemarie Brosche

Vor wenigen Tagen wurde in unserem Landkreis die Vorlesesiegerin der 4. Klassen gekürt. Ihr Preis: eine Autorenlesung mit mir für ihre Klasse. Ich freue mich sehr auf diese Lesung. Ich freue mich auch für die Siegerin. Sie hat das toll gemacht und sich die Anerkennung mehr als verdient.

Vorlesewettbewerbe gelten als probates Mittel der Leseförderung. Das sind sie auch, allerdings wird mir zunehmend bewusst: Sie fördern das Lesen nicht bei allen und schon gar nicht bei jenen 20 Prozent der Schüler, die laut der letzten Iglu-Studie die Grundschule als partielle Analphabeten verlassen. Diese Kinder, meist aus Elternhäusern, in denen so gut wie keine Bücher stehen, können Sätze nur mühsam entziffern und wissen hinterher nicht so recht, was sie eigentlich gelesen haben.

Wer so schlecht liest, den verlässt die Hoffnung auf einen Sieg im Vorlesewettbewerb schon auf den ersten Metern. Wie viel besser andere lesen, ist ja auf Anhieb hörbar. Was bleibt, ist zuhören, die Mitschüler bewundern und bestenfalls auf ihrem Weg nach oben mitfiebernd begleiten. Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich habe nichts gegen Vorlesewettbewerbe, aber etwas dagegen, dass man so tut, als seien sie für alle Schüler ein Gewinn. Das gilt auch für andere gut gemeinte Aktionen wie Lesenächte: Sie sind nur für einen Teil der Kinder ein großartiges Vergnügen, den anderen zeigen sie, was sie nicht können.

Solche Erfahrungen beschädigen das Selbstkonzept. Wie aus "Ich bin kein guter Leser" irgendwann "Ich bin kein Leser" wird, erleben wir Mittelschullehrer täglich: Etliche Schüler schließen mit dem Lesen ab, wenn wir sie nicht rechtzeitig aus dieser Sackgasse herausholen. Denn eine Sackgasse ist es. Zuerst wird das Gelesene in der Schule nicht richtig verstanden, dann in der Ausbildung, dann im Beruf. Die Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Leben ist beschränkt. Und wer nicht liest, kann viel leichter manipuliert werden. Wenn wir das verhindern wollen, müssen wir sehr genau darauf achten, wie wir unsere Kinder fördern. Leseförderung muss zur Zielgruppe passen.

Zunächst geht es darum, den Lesefluss zu verbessern. Wer endlos für einen Absatz braucht, ohne dessen Sinn voll zu erfassen, wird permanent frustriert. An die Stelle der Enttäuschung muss die Motivation treten. Nur, wie geht das?

Nach meiner Erfahrung funktionieren Lautleseverfahren sehr gut, das haben auch diverse Studien erwiesen. Beim Tandemlesen zum Beispiel wird nach einer Eingangsdiagnostik ein Schüler zum "Trainer", der andere zum "Sportler" ernannt. Dann lesen beide halblaut im Chor, der Trainer fährt dabei mit dem Finger über die Zeilen, stoppt, wenn der Sportler einen Fehler macht, und hilft. Nach ein paar Wochen zeigt sich der Fortschritt: Der Sportler kann mehr Wörter pro Minute lesen und fühlt sich besser beim Lesen, eben weil er es besser kann. Das ist gut fürs Selbstkonzept, und darauf kommt es an.

Auch simultanes Hören fördert nachweislich den Lesefluss und die Motivation. Wer als Lehrer mit seiner Klasse einen Sachtext oder altersgerechten Roman liest und einen identischen Hörtext in angemessenem Tempo mitlaufen lässt, während die Kinder still mitlesen, tut schwachen Lesern etwas Gutes. Leider habe ich festgestellt, dass Bücher für Kinder ab zehn selten für schwache Leser geschrieben und meist eine ziemlich ernste Lektüre sind. Schade, denn wenn das Lesen an sich schon eine anstrengende, also ernste Sache ist, tut es doppelt gut, wenn es wenigstens etwas zu lachen gibt. Wer lacht, kann etwas von seiner Anspannung abbauen.

Wenn die Leseflüssigkeit und das Selbstkonzept besser werden, lässt sich am Leseverständnis arbeiten. Hier können Strategien helfen, die speziell auf die Bedürfnisse schwacher Leser abzielen. Dieses passgenaue Fördern kostet viel Zeit und Energie, steckt ja dahinter immer auch Beziehungsarbeit, da schwache Schüler ohne gutes Verhältnis zur Lehrkraft schwerlich zu motivieren sind. Bei aller Bereitschaft zum differenzierten Unterrichten kann ein Lehrer allein dies nicht leisten. Da könnte eine zusätzliche Fachkraft im Klassenzimmer viel bewirken. Durch gezielten Zuspruch bewegt sie den einen Schüler zum Arbeiten, bestärkt den zweiten in seinem Fortschritt und beruhigt den dritten, der gerade einen Konflikt austrägt. Fehlt diese Fachkraft, sind es am ehesten die schwachen Leser, die leer ausgehen, denn sie brauchen am meisten Zeit.

Und all die Ehrenamtlichen, die in vielen Schulen jetzt schon beim Lesenlernen helfen? Sie lesen vor, ermutigen, übernehmen Lesepatenschaften. Das ist wunderbar. Aber es reicht nicht. Das Erlernen einer so wichtigen, das ganze Leben massiv prägenden Fähigkeit wie das Lesen darf nicht nur auf kaum geschulte, unbezahlte Ehrenamtliche abgewälzt werden. Doch was tun, solange der allgegenwärtige Lehrermangel nicht gelindert ist? Eine Übergangslösung könnte sein, Lehramtsstudierende noch mehr als bisher im Unterricht einzusetzen. Und zwar gezielt an Schulen mit vielen Kindern aus bildungsfernen Elternhäusern. Natürlich müssten sie dafür belohnt werden, etwa mit Leistungspunkten für ihr Studium. Aber wie gesagt: Eine Dauerlösung ist das nicht.

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Quelle:
SZ vom 23.04.2019
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