Süddeutsche Zeitung

Lesen in der Schule:"Jungen verjubeln Zeit am Computer"

Sie haben ein Zweit-Handy, aber kein einziges Buch im Regal: Viele Jugendliche lesen zu wenig. Im Interview erklärt der ehemalige Deutschlehrer und "Rechtschreib-Rebell" Friedrich Denk, warum er findet, dass PCs und Tablets nichts in der Schule verloren haben, was gute Schullektüre ausmacht und warum ein Roman von Charlotte Roche auch keine Lösung ist.

Von Johanna Bruckner und Johann Osel

Die deutsche Sprache ist seine Leidenschaft, für ihren Erhalt kämpft er: Friedrich Denk war einer der größten Kritiker der Rechtschreibreform. Jetzt hat der ehemalige Deutschlehrer ein Plädoyer fürs Lesen verfasst: "Wer liest, kommt weiter" (erschienen im Gütersloher Verlagshaus). Zum Interviewtermin in München brachte er Geschenke mit - wie sollte es anders sein, ausgewählte Bücher und Büchlein.

SZ.de: Herr Denk, erinnern Sie sich an ein Buch, das Ihnen als Kind vorgelesen wurde?

Friedrich Denk: Ich bin sicher, dass mir Märchenbücher vorgelesen wurden, von den Gebrüdern Grimm, Hans Christian Andersen ... Von Hans Volkart gibt es eines, das ich besonders mag: "Der kleine gelbe Elefant", mit wunderbaren Illustrationen. Oder Grimms "Jorinde und Joringel", toll! Das Schöne ist ja: Was einem als Kind vorgelesen wurde, das liebt man auch als Erwachsener noch.

In einer Umfrage der Stiftung Lesen aus dem Jahr 2008 gab fast die Hälfte der befragten 14- bis 19-Jährigen an, als Kind nie ein Buch geschenkt bekommen zu haben. Stirbt das Vorlesen aus?

Ich hoffe nicht. Es wird ja heute sehr intensiv für das Vorlesen geworben. Mir fehlt dabei allerdings die Begründung, warum man Kindern vorlesen soll. Beim gemeinsamen Betrachten von Bilderbüchern lernen Kinder die Welt kennen und benennen, beim Vorlesen lernen sie neue Wörter und Ausdrucksmöglichkeiten, die sie für das Leben und die Schule brauchen können. Und je mehr man ihnen vorliest, desto eher entwickeln sie den Wunsch, selber lesen zu können.

Spätestens die Schule soll alle Kinder zum Lesen bringen, doch sie erreicht oft das Gegenteil: Kinder können mit der Unterrichtslektüre nichts anfangen, sind überfordert.

Ja, wobei falsche Bücher nur ein Teil des Problems sind. Ich habe als Lehrer die Erfahrung gemacht, dass es auch noch in der Oberstufe Schüler gibt, die große Schwierigkeiten haben mit dem Lesen. Wer jedes Wort mühsam buchstabieren muss, hat natürlich keine Freude an der Lektüre. Das Problem geht aber viel tiefer, denn wer nicht richtig lesen kann, lernt schlechter. Lernen funktioniert vor allem über Nachahmung und Wiederholung. Beim Lesen ahmen wir sozusagen nach, was der Autor gedacht und geschrieben hat: Wir sehen die Buchstaben und Worte mit den Augen, sprechen sie innerlich nach, hören sie dabei und versuchen das Gelesene zu verstehen. Wir üben also beim Lesen gleichzeitig auf hohem Niveau Sehen, Sprechen, Hören und Denken. Vor allem Jungen haben aber zunehmend Probleme beim Lesen und Lernen - mit dem Ergebnis, dass schon heute 20 Prozent mehr Mädchen als Jungen Abitur machen.

Wie erklären Sie sich diesen Geschlechterunterschied?

Viele Jungen verjubeln Lesezeit am Computer. Natürlich sind auch Mädchen im Netz. Aber schaut man sich an, wer internetsüchtig, vor allem süchtig nach Online-Spielen ist, dann sind das fast nur männliche Jugendliche.

Wir leben in einer digitalen Welt und auch die lässt sich größtenteils nur über das Lesen erobern.

Hier ist die Schule gefordert, Lesezeit zu vermehren. An bayerischen Gymnasien sollen die Schüler zwei "Ganzschriften" pro Jahr lesen. Das ist zu wenig! Warum nicht vier oder fünf Werke, von denen sie sich ein, zwei selbst aussuchen könnten? Wobei wir hier schon beim nächsten Problem sind: Männliche Jugendliche in der Pubertät werden heute von allen Seiten dermaßen zugedröhnt mit Sexualität - und sind natürlich empfänglich dafür -, dass sich kaum andere Interessen entwickeln können. Wie also soll ein 15-Jähriger wissen, was er lesen will?

Könnte man nicht versuchen, die Jugendlichen bei dem Thema abzuholen, das sie mutmaßlich am meisten interessiert - und im Unterricht beispielsweise "Feuchtgebiete" von Charlotte Roche lesen?

Ich wurde Ende der neunziger Jahre von meinen Schülern, achte Klasse, gefragt, ob wir nicht "Crazy" von Benjamin Lebert lesen könnten. Das habe ich abgelehnt. Die Schilderung eines Geschlechtsverkehrs auf der Toilette hat für mich keinen pädagogischen Wert und erschien mir für den Unterricht in dieser Altersstufe ungeeignet. Mittlerweile sind solche Überlegungen natürlich überholt, im Netz sind viel explizitere Inhalte schon für Kinder frei zugänglich.

Also grundsätzlich keine Geschlechtsteil-Literatur in den Schulen?

Ich würde Charlotte Roches Roman heute im Unterricht thematisieren - solche Skandalbücher eignen sich für Diskussionen. Aber man muss sie nicht lesen, man kann auch so die Schüler fragen, wie sie krasse Darstellungen von Sexualität empfinden, die ganz platt auf bestimmte Emotionen spekulieren. Und ich würde mit ihnen diskutieren, ob nicht dezentere Beschreibungen uns eher die Möglichkeit lassen, in der Liebe und Sexualität eigene und authentische Erfahrungen zu machen.

Was macht für Sie gute Schullektüre aus?

Der Deutschlehrer sollte nur die besten Texte aussuchen. Es kommt ja auch keiner auf die Idee, vertrocknete Orangen zu essen, wenn er saftige haben kann. Und die Schullektüre muss auch einen pädagogischen Anspruch erfüllen. Ich habe früher mit Oberstufenschülern gern "Aus dem Leben eines Taugenichts" von Joseph von Eichendorff gelesen. Das ist eine wunderbare Geschichte über jugendlichen Freiheitsdrang und Lebenshunger, die gefällt fast jedem Jugendlichen.

Sind Texte aus dem 19. Jahrhundert nicht zu weit weg von der Lebenswelt der Schüler? Selbst ein moderner Jugendbuch-Klassiker wie "Die Kinder vom Bahnhof Zoo", in dem die Romanhelden zum Telefonieren in die Telefonzelle gehen, ist doch aus heutiger Sicht schon veraltet.

Wenn die Handlung stimmt, spielen Ort und Zeit der Geschichte keine Rolle mehr. Nehmen wir "Irrungen, Wirrungen" von Theodor Fontane. Der Roman ist ebenfalls im 19. Jahrhundert angesiedelt, doch das Thema ist hochaktuell. Es geht darum, wie sich frühere Liebschaften auf eine neue Beziehung auswirken können. Ob sich Schüler für Klassiker erwärmen, hängt auch stark vom Lehrer ab: Er muss Bezüge zur Lebenswelt der Jugendlichen herstellen und Begeisterung für Inhalt und Sprache wecken.

Lehrer könnten ihre Schüler vermutlich eher fürs Lesen begeistern, wenn sie auf Tablet-Computer statt aufs Taschenbuch setzen.

Das würde den Schülern gefallen - und erst recht den Geräteherstellern und Internetanbietern. Die reiben sich die Hände mit ihrer Masche: Von der Lektüre ist das nächste Kaufangebot nur eine Fingerberührung entfernt. Aus dem Leser kann so leicht ein Konsument werden. Das ist es, was Amazon und Co. eigentlich wollen. Von ihrer Vision sind wir nicht mehr weit entfernt. Es gibt ein Youtube-Video, in dem ein kleines Mädchen immer wieder mit der Hand auf die Seiten einer Illustrierten tippt und ganz ratlos ist, weil nichts passiert. Wie das kleine Mädchen weiß heute erst recht jeder Jugendliche, wie ein iPad funktioniert, welche Ablenkungsmöglichkeiten es bietet. Wer liest noch freiwillig längere Texte, wenn er zugleich so viel interessantere Dinge angeboten bekommt?

Aber Bücher werden ja auch nicht freiwillig in die Hand genommen. Digitale Formen des Lesens kommen zumindest den Lesegewohnheiten vieler Schüler entgegen - darf sich die Schule diese Chance entgehen lassen?

Ja, denn es ist keine echte Chance. Studien zeigen, dass man sich an Texte, die man am PC oder Laptop gelesen hat, deutlich schlechter erinnern kann als an gedruckte Texte. Ich würde sogar sagen: Computer sind in der Schule für die meisten Fächer weitgehend überflüssig und oft auch nachteilig. Ich finde es unklug, wenn Lehrer ihren Schülern aufgeben, etwas über griechische Götter zu lernen, verbunden mit der Arbeitsanweisung: "Recherchier das mal im Netz!" Wie müssen wir uns das vorstellen, wenn der zwölfjährige Junge daheim diese Hausaufgabe macht? Ist die Mutter im Zimmer, ist er bei den Göttern, kaum ist sie draußen, ist er bei den Göttinnen!

Also halten Sie nichts von dem pädagogischen Ansatz, dass sich Schüler ihr Wissen selbst erarbeiten sollen?

An der Uni macht es Sinn, dass sich Studierende Inhalte selbst erarbeiten, aber nicht an der Schule. Das setzt ein Maß an Eigeninteresse voraus, das ich für unglaubwürdig halte. Sie können nicht erwarten, dass Kinder von zwölf, 13 Jahren von sich aus neugierig und wissbegierig sind. Außerdem besteht immer die Gefahr, dass sie einen Irrweg nehmen, wenn sie sich Dinge selbst erarbeiten sollen. Gerade wenn Schüler etwas neu lernen, ist es aber wichtig, dass sie das Neue richtig und Richtiges lernen. Das gilt auch für das Schreiben. Der Lehrer muss neue Wörter unbedingt korrekt an die Tafel schreiben, sonst prägt sich die falsche Schreibweise bei den Schülern ein.

Apropos richtig schreiben: Sie waren einer der erbittertsten Gegner der Rechtschreibreform, wurden als "Rechtschreib-Rebell" betitelt. Heute hat sich die neue Schreibweise fast überall durchgesetzt - war Ihr Kampf also umsonst?

Keineswegs! Unser Protest war durchaus erfolgreich. Nahezu die gesamte Getrenntschreibung wurde zurückgenommen - niemand schreibt mehr "hoch begabt", "so genannt" oder "hier zu Lande". Auch andere unsinnige Veränderungen wurden stillschweigend zurückgenommen, zum Beispiel "er tut mir sehr Leid", "Leid" groß. Geblieben ist fast nur noch die ss-Schreibung nach kurzer Silbe - und eine allgemeine Verwirrung und Nachlässigkeit.

Chefs und Professoren beklagen, dass kaum noch ein junger Mensch die deutsche Rechtschreibung beherrscht. Welche Schuld trägt daran der Deutschunterricht?

Die Rechtschreibung wird im Deutschunterricht manchmal mit fragwürdigen Methoden gelehrt. Vor allem aber gibt es zu wenig Deutschunterricht an den Schulen. Seit den Pisa-Studien ist die Bildungspolitik scheinbar manisch fixiert auf die Naturwissenschaften. Nirgendwo in Europa wird die Muttersprache so wenig unterrichtet wie bei uns. Dabei ist die Beherrschung der Muttersprache der wichtigste Schlüssel zum schulischen und beruflichen Erfolg und zugleich - das wissen wir alle - eine zentrale Voraussetzung für das Gelingen der Kommunikation der Menschen untereinander.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1768756
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
Süddeutsche.de/jobr/ojo/bavo
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.