Der Weg führt in einen Hinterhof in die Grünberger Straße in Berlin-Friedrichshain, einen Stadtteil, der für Partys bekannt ist, nicht für Pädagogik. Der Fahrstuhl rumpelt in den vierten Stock, dann muss der Besucher noch eine Treppe steigen, ehe er vor einer Tür mit kaputter Klingel steht. Dahinter könnte er eine WG mit Kiffercouch erwarten, findet sich aber inmitten einer penibel aufgereihten Hundertschaft von Bildschirmarbeitsplätzen wieder. "Sofatutor" ist hier zu Hause, mit 250 Mitarbeitern das wohl größte jener deutschen Bildungs-Start-ups, die von sich behaupten: Wir könnten alle Schüler der Republik mit Aufgaben versorgen - aus dem Stand, online, nach Lehrplan.
Sofatutor startete im Jahr 2008 mit Lernvideos für Nachhilfe. Inzwischen abonniert über eine halbe Million Nutzer die Plattform. Schüler können dort den Lernstoff vom Vormittag mit Videos und Aufgaben rekapitulieren. Auf leisen Sohlen hat sich der Nachhilfedienst didaktisch weit entwickelt. Er kann nun etwas, wovon die Schulminister noch weit entfernt zu sein scheinen: eine digitale Ergänzung zum Klassenzimmer anbieten. Sollte es wieder zur Schließung von Schulen kommen, könnte Sofatutor mit anderen Anbietern wie "Bettermarks", "Anton" oder "Simple-Club" den Unterricht in den Schulen ersetzen. Jedenfalls eine Zeit lang. "Die Schüler sitzen vielleicht bald wieder ohne Lehrer und Aufgaben zu Hause. Aber man hat den Eindruck, dass die Kultusminister fast nur von Normalbetrieb reden", sagt Stephan Bayer, der Gründer von Sofatutor.
Bayer, 37, wirkt wie das Klischee eines deutschen Silicon-Valleyisten. Stets gut gelaunt begrüßt er in weißen Sneakern und mit verwuschelten Haaren. Für einen Digitalunternehmer spricht er viel über Pädagogik. Man sollte Muße für ein Referat über "langfristige Lernziele" oder den "Kompetenzaufbau von Schülern" mitbringen, wenn man mit Bayer spricht. Von den 11 000 Lernvideos ("weltweit die größte Sammlung von Lehrvideos in dieser Qualität") kennt er offenbar jedes einzelne.
Das Video ist der neue Star des Lernens. Als die Schulen im März schließen mussten, wurden Familien mit Videokonferenzen und Lehrvideos überschwemmt. Manche Lehrer begannen, eigene Clips zu drehen, Bayern fordert seine Lehrkräfte sogar dazu auf. Dabei entstanden Filme, die meist zu lang und zu wacklig sind, um die Generation Tiktok zu fesseln. Sofatutor macht Videos bereits seit einem Jahrzehnt. Sie sind nicht so pädagogisch, wie die des bayerischen Realschullehrers Sebastian Schmidt, der als der gründlichste deutsche Lehrer-Youtuber gilt. Und nicht so flippig, wie die des Mathe-Influencers Daniel Jung, mit 673 000 Followern Star der Szene. Bei Sofatutor erklärt die Wolke Claudia in vier Minuten 17 Sekunden das Going-to-Future des Englischen. Der Affe Benjamin braucht sechs Minuten, um seine Körperteile für Biologie vorzustellen. Es gibt auch Videos für die Oberstufe mit Mathegenie Martin Wabnik. Aber alle müssen sie Bayers Mantra folgen: Die Videos sollen so einfach wie möglich erklären und kurz sein. Die Obergrenze liegt bei acht Minuten.
Stephan Bayer nahm sein erstes Lehrvideo als Student auf. Damals hatte er keine Lust, auf eine Matheklausur zu lernen. Er schnitt lieber ein Erklärvideo für Kommilitonen - über den Prüfungsstoff. Seitdem perfektioniert Bayer das Genre. Bei Sofatutor arbeiten professionelle Drehbuchautoren, Regisseure und Kameraleute. Schauspieler werden als Sprecher angeheuert. Und immer sind Lehrer dabei. Sie brechen aus den Lehrplänen kleine Stücke heraus, um sie schülergerecht aufzubereiten. Die Videoabteilung macht dann einen Lehrfilm draus. Wenn Bayer darüber spricht, wirkt er eher wie ein detailversessener Harald Lesch der Pädagogik denn als Boss eines Lernstudios mit allein 150 Festangestellten. Bayers härteste Konkurrenten, das Matheangebot Bettermarks und die Youtuber Nico und Alex von Simpleclub, beschäftigen keine 50 Mitarbeiter.
Natürlich treibt die Nachfrage das Videolabor voran. Die Zugriffe vervierfachten sich während der Schulschließungen. Vor Corona waren es 1,5 Millionen Einzelnutzer pro Monat - in der Pandemie pro Woche. Nutzer, nicht Klicks. Wäre nun vielleicht der Moment, um ans Verkaufen zu denken? "Verkaufen?", brummt Bayer. Nein, der Mittdreißiger ist keiner, der ein Start-up - wie man in der Branche sagt - skaliert und vergoldet. "Wir können jetzt nicht irgendwas Neues auf den Markt werfen", sagt sein Produktchef. "Wir beobachten ganz genau, was Schüler und Eltern brauchen - und welche Angebote sie tatsächlich annehmen."
In der Digitalbranche heißt es: Wachsen und fressen - oder gefressen werden. Bayer scheint da nicht hinein zu passen. Der CEO einer Firma mit elf Millionen Euro Jahresumsatz wohnt in einer 60 Quadratmeter-Studentenbude. Das zersplitterte Display seines Smartphones hat er kunstvoll geklebt. Als Schüler gründete er in Sachsen-Anhalts Provinz einen Verein, der an Schulen Projekttage für Toleranz und Demokratie veranstaltete. Mit 17 marschierte er zu Schulleitern, so berichtet es ein Mitstreiter, und sagte: "Sie überlassen uns ihre Schule für zwei Toleranztage - und wir werben dafür 30 000 Euro bei der EU ein." Mit Anfang 20 eröffnete Bayer seine erste Firma, einen Zwei-Mann-Betrieb, der auf Mittelaltermärkten Suppen im Brotteig verkaufte. Danach vertickte er Luftaufnahmen von Eigenheimen. Er merkte, "dass ich nicht der Typ bin, um an der Haustür irgendwelches Zeug zu verkaufen". Und ging zum Wirtschaftsstudium nach Berlin.
Heute zählt seine Firma unter den deutschen Bildungs-Start-ups zu den großen Drei: Die Sprach-App "Babbel" verkauft international und ist unumstrittener Umsatzkönig. Dahinter rangieren, mit einigem Abstand, Bettermarks - und Sofatutor. Aber die Bildung ist in Bewegung, sie wird mit der Digitalisierung immer mehr zu einer Branche. Bis vor wenigen Jahren bestand der Vormittagsmarkt quasi allein aus dem Schulbuch. Die großen Schulbuchverlage Klett, Cornelsen und Westermann sind nach wie vor die Platzhirsche. Im Digitalen aber haben sie längst jede Menge Konkurrenz bekommen durch Start-ups und Hacker-Initiativen, die aber alle jeweils nur ein Puzzleteil der Lehrplaninhalte abdecken. Die Giganten Microsoft, Google und Apple sind gerade dabei, sich den größten Teil des Kuchens einzuverleiben. Allein in Bayern könnte nach Informationen der SZ ein Millionenbetrag im niedrigen zweistelligen Bereich für Lizenzen und Support von Microsoft Teams anfallen - für die Zeit von Mai bis Dezember. Aber: die Tech-Riesen haben keine Inhalte.
Im Vergleich zu den Billion-Dollar-Plattformen aus den USA ist Sofatutor ein Zwerg, unter den Start-ups aber ein Dinosaurier. Die Firma hat sich ein didaktisches Ensemble komponiert, das in Zeiten der Pandemie tatsächlich Notunterricht übernehmen könnte. Im Zentrum das Lehrvideo, das näher am Lehrplan als an Youtube ist. Dazu kommen Aufgaben, genau auf die Videos abgestimmt. Und es gibt ein weiteres Element: den Chat. Schüler können sich, wenn sie etwas nicht verstanden haben, an einen der 60 Sofatutoren des Supports wenden. Ausgebildete Lehrer stehen dafür rund um die Uhr bereit.
Der Chat kann aber auch als Schnittstelle zum staatlichen Schulsystem dienen. Denn die Rolle der Chatpartner können ja auch Studienräte übernehmen - im Klassenzimmer. In Corona-Zeiten wären viele Lehrer wohl ganz glücklich, wenn sie ihren Schülern lehrplangerechte Videos geben könnten, die sie dann anschließend individuell mit den Schülern besprechen, je nach Infektionslage im Klassenzimmer oder im Videochat. Hätten die Länder jetzt noch für alle Lehrer funktionierende Lernmanagementsysteme - Schulschließungen wären kein Horrorszenario mehr.
Den Realitätscheck hat Sofatutor bestanden. Während der Corona-Schließzeit schossen nicht nur die von Eltern bezahlten Abos in die Höhe. Auch Zehntausende Lehrer nutzten die Möglichkeit, ihren Schülern über einen Gratiszugang temporäre Videolinks zu vergeben. In dieser Phase veränderten sich die Zugriffszeiten. Vor Corona guckten Schüler ab 16 Uhr intensiv Lernvideos, in der Pandemie begann die Hochphase schon um 10 Uhr. So sieht man es auf der Heatmap von Bayers Datenanalysten.
Bremen ist einen Schritt weiter gegangen. Es hat Sofatutor vor drei Jahren in den Vormittag geholt. Das heißt, Schüler lernen den Stoff nicht mehr nur mit Lehrern und Schulbüchern, sondern auch mit Erklärvideos. Die Hansestadt ist damit das erste Bundesland, das Bayers Gründung regulär für den Unterricht zugelassen hat. Kürzlich hat auch Sachsen 20 000 Schullizenzen gekauft - falls es wieder zur Schließung von Schulen kommt. Für Bayer geht damit ein Traum in Erfüllung. Er wollte vom ersten Video an in den Vormittag.
Bedeutet das, dass Sofatutor bald in der ganzen Bundesrepublik den Lehrplan mit seinen Videos abdecken wird? "Nein", ist sich Bayer sicher, "selbst wenn wir pädagogisch sinnvolle Sachen machen, sind wir dennoch ein Unternehmen. Das bedeutet, wir werden immer kritisch beäugt."