Süddeutsche Zeitung

Lehrerporträt:"Ausflüge sind mein Markenzeichen"

Harun Lehrer bringt geflüch­teten Kindern nicht nur die neue Sprache bei, sondern auch etwas über den ­Alltag in Deutschland.

Von Ann-Kathrin Eckardt

Eineinhalb Stunden sind die Kinder kreuz und quer durch die Turnhalle gerannt, haben sich beim Jägerball die Bälle zugeworfen, und jetzt sollen sie noch ihre Meinung sagen. Am Ende der Stunde versammelt Harun Lehrer seine Fünftklässler und fragt: "Wie fandest du die Stunde heute?" Er sagt "du", obwohl er alle meint. Bei ihm soll sich jeder immer persönlich angesprochen fühlen.

Es gab eine Zeit im Leben von Harun Lehrer, da sah er nicht erhitzte Kindergesichter in seiner Zukunft, sondern kühle Maschinen: Ursprünglich wollte er Krankenhausbetriebstechnik studieren. Sechs Wochen hielt er durch, dann besann er sich auf das, was er schon immer gut konnte: mit Kindern umgehen. Bereits als Schüler hatte er Ferientagestouren geleitet und Kinder im Ringen trainiert. Also wurde er Lehrer, Hauptschullehrer, weil da neben dem Fach die Erziehung im Vordergrund steht. Seitdem hört er vor allem einen Spruch ständig: "War ja klar, bei dem Nachnamen!" Er muss dann immer erklären, dass er der erste Lehrer in der Familie ist. Und meist auch gleich, woher sein Vorname kommt. Die Mutter ist Türkin, der Vater Deutscher, "ich bin Münchner".

Harun Lehrer, 41 Jahre, mit seiner Freundin hat er einen einjährigen Sohn

Beruflicher Werdegang: Abitur in München, danach Studium für Lehramt an Hauptschulen mit den Schwerpunkten Sozialkunde, Deutsch, Geschichte und Sport. Seit vier Jahren Konrektor an der Münchner Mittelschule an der Ichostraße. Außerdem ist er Integrations­beauf­tragter des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands.

Als Schüler war ich selbst: Mittelmäßig und hatte keinen Spaß an der Schule. Das lag zum Teil aber auch an den Lehrern, die mich unterrichtet haben.

Das hilft mir vor der Klasse: Ich habe ein gutes Gespür für die Stimmung in der Klasse, und mein Migrationshintergrund ist auch oft ganz nützlich. Ich achte zum Beispiel darauf, dass ich nur Halal-Gummi­bärchen verteile oder dass das Essen nicht mit einem Löffel ausgegeben wird, der für Schweinefleisch verwendet wird. Das sage ich den Kindern auch.

Ein typischer Satz von mir: Wenn ein Schüler sagt: "Ich schaff das nicht", sage ich immer: "Noch nicht."

Ein Satz, den ich von Eltern nicht mehr hören kann: "Ab sofort achte ich drauf, dass mein Kind die Hausaufgaben macht." - Das ist zu oft eine leere Versprechung.

Pädagogen mit Migrationshintergrund, mit denen sich ausländische Kinder leichter identifizieren können, gibt es nicht nur im Freistaat viel zu wenige. Und da Harun Lehrer auch noch "Deutsch als Zweitsprache" studiert hat, war schnell klar: Der junge Mann ist der perfekte Lehrer für Übergangsklassen. Bei ihm lernen Kinder, die kein Deutsch sprechen, zwei Jahre lang die Sprache. Zuletzt waren das vor allem Flüchtlinge.

Anfangs konnte sich Harun Lehrer mit der Klasse nur mit Händen und Füßen und vielen Bildern verständigen. Also ging er dorthin, wo die Schüler ihre Hände und Füße benutzen können und die neuen Wörter gleich dazu: "Die Sprache lernt man nicht im Klassenzimmer, sondern draußen in der Stadt." Sooft er kann, packt er die Schüler ein und fährt mit ihnen raus: Ins Olympia-Schwimmbad, in die BMW-Welt, aufs Oktoberfest oder zum Schlittschuhlaufen. Immer dabei: 15 iPads, die ein Digital­projekt der Stadt bezahlt. Dinge, die sie nicht kennen, fotografieren die Schüler und schreiben später gemeinsam Bildunterschriften dazu. "Die Geräte helfen, die Sprache bildhaft und altersgemäß zu vermitteln", sagt Harun Lehrer.

Das sagen die Schüler:

"Er schreit nur manchmal."

"Wir haben bei ihm Deutsch mit dem iPad gelernt. Das war super. Manchmal durften wir auch Spiele machen."

"Er versteht Spaß. Er lacht mit uns."

"Er ist immer Ansprechpartner für uns. Wir können ihm vertrauen, und er löst Probleme für uns."

"Er erklärt besser als andere Lehrer und redet langsamer und deutlicher. Am Anfang hat er Türkisch mit mir gesprochen."

"Er hat uns Schwimmen beigebracht."

"Er macht viele Ausflüge mit uns."

Dass es im echten Leben manchmal spannender zugeht, als ihm lieb ist, muss er in Kauf nehmen: Einmal blieb ein afghanischer Schüler, der kein Wort Deutsch sprach, versehentlich in der S-Bahn sitzen. Mit der gesamten Klasse fuhr Harun Lehrer eine Station weiter, hoffte, den Schüler dort zu finden - ohne Erfolg. Als er ihn gerade als vermisst melden wollte, fand er ihn bei der Bahnhofspolizei. "Den Schrecken werde ich nie vergessen", sagt Lehrer, aber auch, dass er die Ausflüge dennoch niemals aufgeben würde. Zu seinem Unterricht gehört, dass seine Schüler auch selbst Ausflüge für die Klasse planen. Und immer freitags in der sechsten Stunde tagt der Klassenrat. Dort sagen die Schüler, worüber sie sich gefreut oder geärgert haben, oder schlagen Dinge vor. "Meine Schüler sollen nicht nur den Stoff lernen, sondern auch, was es bedeutet, ein mündiger Bürger zu sein", sagt Lehrer.

Und dazu gehört es eben, seine Meinung zu sagen. Auch im Sportunterricht. "Gut" fand der Erste die Stunde, "Gut!" der Zweite und der Dritte auch: "Gut!" Nicht besonders kontrovers, aber genug für den Anfang und für Harun Lehrer. Er glaubt fest daran: "Wenn sie älter werden, trauen sie sich, auch Kritik zu üben."

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