Lehrerausbildung:Den Versuch ist es wert

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Der promovierte Biologe Florian Schaller unterrichtet an der Bochumer Schiller-Schule Biologie und Chemie. Mit seinem mobilen Labor führt er Schüler an komplexe Experimente heran. Irgendwann will er in der Schule ein festes Labor einrichten, in dem jeder, wie es sich gehört, im Stehen arbeitet. (Foto: Volker Wiciok)

Um Schüler für Biologie, Chemie oder Physik zu begeistern, braucht es engagierte Experten. Warum nicht Quereinsteiger aus der Wissenschaft? Ein Bochumer Beispiel könnte Schule machen.

Von Susanne Klein

Weiß und still steht die digitale Tafel in der linken Ecke, das Kabel baumelt herunter. Florian Schaller hat es nicht so mit Smartboards. Auch die moderne Dokumentenkamera, mit der er Bilder und Texte mausgesteuert an die Wand werfen könnte, bleibt aus. Statt dessen legt Schaller eine Folie auf den altgedienten Overheadprojektor, greift sich einen Besen mit braunen Borsten und zeigt mit dem Stiel an die Wand. Zwei Worte stehen dort: abiotisch und biotisch. "Was für ein Umweltfaktor ist Licht?", fragt er. Sofort gehen fünf Hände hoch. "Ein abiotischer", antwortet ein Schüler.

Mittwochmorgen, Projekttag im zweiten Stock der Schiller-Schule in Bochum. Florian Schaller ist Biologielehrer, und zwar - auch ohne Smartboard - ein anerkannt innovativer. Der 49-Jährige hat in einem Chemieraum sein bewegliches molekularbiologisches Labor installiert: das "Schiller-Mobil". Auf den Tischen der Schüler stehen Ständer mit Mikroliterpipetten, Eppendorfgefäßen und Küvetten, dazu Bechergläser, Messzylinder und Mörser. Alle sieben Teams haben ihr eigenes Spektralphotometer, schwarze flache Geräte, auf die Schaller stolz ist. "Die hab ich gebraucht gekauft, knapp 2000 Euro pro Stück, sonst kosten sie 6000." Ein Labor wie das Schiller-Mobil ist an staatlichen Schulen die große Ausnahme: viel zu teuer. Die biologische Fachschaft seines Gymnasiums erhalte vom Land etwa 300 Euro pro Jahr für Chemikalien und Geräte, erklärt Schaller. "Um das Equipment, das wir im Schiller-Mobil bereits angesammelt haben, damit bezahlen zu können, hätten wir 150 Jahre lang sparen müssen."

Dass Schaller sich davon nicht aufhalten ließ, hat ihm 2016 den Titel "Lehrer des Jahres" eingebracht. Er erhielt den Klaus-von-Klitzing-Preis für besonders engagierten naturwissenschaftlichen Unterricht. Seit drei Jahren baute er sein Labor da erst auf. Inzwischen hat er fleißig weiter Anträge an Sponsoren geschrieben. Die meisten Utensilien finanziert die Stiftung eines Chemieunternehmens, das den naturwissenschaftlichen Nachwuchs fördern will. Auf diese Weise kann Schaller zehn Praktikumstage pro Schulhalbjahr bestreiten, alle in einem Rutsch, damit er den Raum nur einmal umrüsten muss. Gestern war ein Bio-Grundkurs da, heute experimentiert bei ihm der Leistungskurs eines Kollegen.

"Photo- und Skotomorphogenese bei Erbsenkeimlingen" lautet das Thema des Tages - Pflanzenwachstum mit und ohne Licht. Töpfchen voller Schösslinge stehen bereit, die einen grün mit Blättchen, die anderen weiß, blattlos und unnatürlich lang. Schaller erklärt, dass Umwelteinflüsse bei einem Genom zu unterschiedlichen Genaktivitäten führen können, wie bei den Erbsenkeimlingen, die er teils im Hellen, teils im Dunkeln gezogen hat. Das Thema ist auf der Schnittstelle zwischen Genetik und Ökologie angesiedelt; Genetik war schon dran im Leistungskurs, Ökologie steht bevor. Die Vorkenntnisse der Schüler sind spürbar, bei jeder Frage meldet sich jemand. Zugleich gibt Schaller viel Input. In Ökologie bekommen es die Schüler mit Fotosynthese zu tun, dieser Tag bereitet sie darauf vor: Sie sollen aus den Keimlingen die Farbpigmente extrahieren, sie isolieren und im Photometer über ihre charakteristische Lichtabsorption identifizieren.

Das Experiment ist komplex, auf universitärem Niveau. Entsprechend anspruchsvoll ist Schallers Einführung. Doch man kann ihm gut folgen, er erklärt immer am Beispiel, stellt viele Bezüge zur Lebenswelt der Schüler her. So entspannt sich in weniger als einer halben Stunde ein Bogen von der differenziellen Genaktivität über Vögel, die auf Wasserbüffeln leben, bis hin zu Musikalität, Walnussallergenen und Nahrung für die Weltbevölkerung. "Besser kann man abiturrelevante Themen nicht erklärt kriegen", lobt der Elftklässler Paul das vernetzte Denken Schallers, "und angewandter Unterricht, wo man selber so viel machen kann, ist sowieso die Ausnahme."

Ein Karton mit Schutzbrillen wird herumgereicht, und nach einer Pipettierübung geht es tatsächlich los. Jeder bekommt einen grünen und einen weißen Keimling - und muss sie erst mal zeichnen. "Ich weiß, ist nicht so beliebt", sagt Schaller und stützt sich auf seinen Besen, "aber wenn ihr Medizin studiert, habt ihr im zweiten Semester Histologie, da müsst ihr das auch." Um unterschiedliche Strukturen eigenhändig zeichnen zu können, müsse man sie eindeutig differenzieren, das Zeichnen diene also dem Erkennen weit mehr als ein Foto im Lehrbuch. Erst danach dürfen die Schüler 2,5 Gramm der grünen Schösslinge abwiegen, um aus ihnen Chloroplastenfarbstoffe zu extrahieren. Mit Seesand, Calciumkarbonat, Aceton und Benzin zerreiben sie die Pflänzchen zu einem Brei. Das Lösemittel färbt sich grün, der Pflanzenbrei wird blass.

Florian Schaller. (Foto: Volker Wiciok)

In Schallers Labor ist jetzt richtig was los. Stößel klappern, an den Waschbecken laufen Wasserstrahlpumpen, Filtrat rinnt in Saugflaschen. Die Unterhaltungen, Sprüche, Witzchen kreisen alle um den Versuch. Wer nicht weiterweiß, fragt Schaller oder schaut in das Skript, das er verteilt hat. Entstanden ist es aus einem Herbstprojekt: Immer in den Oktoberferien bietet Schaller den Schülern Forschungen für vorgezogene Facharbeiten an. "Dafür brauche ich eine Woche, die in der Schulzeit nie klappen würde." Zwölf Schüler erarbeiten dann mit seiner Hilfe Versuche zu zwölf selbstgewählten Themen. Manchmal entwickelt sich ein Projekttag daraus oder ein Experiment für den laufenden Unterricht.

Ein Biologielehrer mit normalem Lehramtsstudium wäre von so viel Pionierarbeit überfordert. Aber Schaller ist kein normaler Biolehrer. Er hat in seinem Fach promoviert, beinahe habilitiert, zehn Jahre im Labor gestanden. Dann beschloss der Vater von vier Kindern, die Unsicherheit einer Universitätskarriere gegen eine Schullaufbahn zu tauschen. Sein Diplom wurde als erstes Staatsexamen anerkannt, da in Nordrhein-Westfalen Bio- und Chemielehrer fehlten. Nach zwei Jahren Referendariat fing er 2009 als Lehrer an. Bereut hat er den Quereinstieg nie, kann ihn anderen Forschern nur empfehlen. "Wir bringen mehr Know-how an die Schulen", sagt er. Das nütze den Schülern, aber auch den Unis, an denen diese später studieren.

Es wird viel diskutiert in Deutschland über die sogenannten Mint-Fächer. Zahllose Projekte versuchen Schüler für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften oder Technik zu begeistern, weil die Industrie nach Nachwuchs giert. Die letzte Pisa-Studie zog jedoch eine karge Bilanz, die Autoren legten den Schulen mehr Praxisbezug nahe. Die Schiller-Schule in Bochum kann über geringes Interesse indes nicht klagen, auch ohne Mint-Profil. 80 Prozent der Schüler an diesem Projekttag können sich vorstellen, auf naturwissenschaftlichem Gebiet zu arbeiten. Auch die Mädchenförderung scheint zu klappen, in manchen von Schallers Kursen sind sogar mehr Schülerinnen als Schüler. In der ersten Reihe sitzt Celina, sie will Ärztin werden, ihre Nachbarin Biologin, und Sara überlegt, Neurobiologie zu studieren.

Zwei Reihen weiter bittet ein Mädchen: "Gib mal so'n Ding rüber!" Ihr Teamkollege greift ein Becherglas. "Nein, das nicht." Er nimmt eine Küvette. "Nee, auch nicht." Schaller grinst. "Es ist ungemein hilfreich, die Namen der Gerätschaften zu kennen", sagt er. Dann schaltet er die Photometer ein und warnt vor dem explosiven Diethylether im nächsten Versuchsschritt. "Ein Narkosemittel, super flüchtig." Einmal, an der Uni, ist ihm das Zeug um die Ohren geflogen. Ein Funke aus einem Heizpilz war schuld, danach lag er auf der Intensivstation. So viel Praxis war selbst ihm zu viel.

© SZ vom 09.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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