Michelle Lammert* tritt zögernd an den Empfangstresen. Ob sie bereits Kundin sei, fragt die Rezeptionistin des Jobcenters. Lammert lacht kurz und freudlos auf. Die Mitarbeiterin fragt in harschem Ton, was es denn da zu lachen gebe. Nun, der Begriff "Kundin" deute auf eine Freiwilligkeit hin, und die sei in ihrem Fall absolut nicht gegeben, erklärt die Lehrerin.
Michelle Lammert ärgert sich. Sie hat das Gefühl, man unterstelle ihr, sie wolle nicht arbeiten. Sie will aber arbeiten, sie will bis ein Uhr morgens basteln, um ihren Schülern mit einem Backpulver-Modell zu erklären, was in einem Vulkan vor sich geht. Und sie will die Sicherheit, ihren Lebensunterhalt verdienen zu können. Stattdessen sitzt sie nun hier im Jobcenter in Rheinland-Pfalz und muss Grundsicherung beantragen: Hartz IV. Und das nicht etwa, weil ihre Leistungen zu wünschen übrig ließen. Sowohl das erste Staatsexamen wie auch das zweite im Referendariat schloss sie mit Einserschnitt ab. Fast ein ganzes Unterrichtsjahr hat sie danach als Gymnasiallehrerin gearbeitet. Mit einem Vertretungsvertrag, der fairerweise bis zum Schuljahresende hätte laufen können. Tut er aber nicht, er endet sechs Wochen früher, wenn die Sommerferien beginnen. Den Anspruch auf Arbeitslosengeld I verpasst Lammert damit knapp. Ab 25. Juni, wenn ihre Schüler ihre Schultaschen in die Ecke schmeißen, steht sie ohne Job und Gehalt da, ohne Arbeitnehmerrechte wie Mutterschutz oder Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Und ein Folgevertrag? Lammert winkt ab. Den wird ihr im alten Schuljahr niemand mehr anbieten.
Die junge Lehrerin aus Rheinland-Pfalz ist kein Einzelfall. Wie ihr ergeht es vielen in dem Beruf. Rund 4900 Lehrkräfte meldeten sich 2017 laut Bundesagentur für Arbeit in den großen Schulferien arbeitslos , in den Jahren davor waren es noch mehr. Die Agentur hat sogar ein Wort für das Phänomen: Sommerferienarbeitslosigkeit. Offensichtlich würden die Ferien "bei vielen befristet geschlossenen Arbeitsverträgen zumindest teilweise ausgespart", schreibt das Amt in seinem aktuellen Bericht zur Lehrerarbeitslosigkeit. Eine eventuelle Anschlussbeschäftigung erfolge erst im neuen Schuljahr. "Das ist natürlich Absicht. Es spart Geld", sagt Susanne Lin-Klitzing, Vorsitzende des Deutschen Philologenverbands. Mit den Lücken zwischen befristeten Lehraufträgen sparen die Bundesländer genau da, wo sie die Schulen am meisten kosten: beim Personal. "Da wird mit der Not der Menschen gehandelt", so Lin-Klitzing. Das sei sozialpolitisch unerträglich und müsse beendet werden.
Personalpolitisch unklug ist es auch. Zehntausende neue Lehrkräfte braucht das deutsche Schulwesen innerhalb der kommenden zehn Jahre. Der Job ist schwer, wird nicht genug wertgeschätzt - sollten dann nicht wenigstens die Vertragsbedingungen stimmen, um junge Menschen in den Beruf zu locken? Stattdessen das: 61 Prozent der Lehrkräfte, die im letzten August arbeitslos waren, waren unter 35 Jahre alt, wie die Agentur für Arbeit berichtet. Und es sind keineswegs nur Gymnasiallehrer betroffen, obwohl man dies vermuten könnte, da Gymnasien weit weniger unter dem Lehrermangel leiden als Grund-, Förder- und Berufsschulen. Susanne Lin-Klitzing beobachtet zwar, dass in manchen Bundesländern Gymnasiallehrer häufiger mit Zeitverträgen abgespeist werden als andere Lehrer - etwa in Schleswig-Holstein, wo es "jeden Sommer an jedem Gymnasium ein bis zwei Lehrer trifft". Im Großen und Ganzen mache die ärgerliche Vertragspolitik aber Lehrern aller Schularten zu schaffen.
Wie groß die Gefahr ist, zwischen zwei Stellen als Bittsteller ins Jobcenter zu müssen, hängt sehr davon ab, wo man lebt. Jedes Bundesland verfährt nach eigenen Regeln, und so mancher Lehrer hat diese Willkür schon verflucht. In Nordrhein-Westfalen zum Beispiel wäre Michelle Lammert nicht auf Hartz IV angewiesen, weil ihr Vertrag vor dem ersten Februar abgeschlossen wurde - der Stichtag garantiert Lehrkräften die Lohnfortzahlung in den Sommerferien. Auch Bayern begrenzt das Risiko, zumindest scheint es so. Dort wäre Lammert über den Sommer abgesichert, wenn sie ihre Stelle bereits in den ersten vier Wochen des Schuljahres angetreten und bis zu den Ferien ausgefüllt hätte. Aber nicht viele Verträge von Vertretungslehrern, die für kranke Kollegen oder Kolleginnen im Mutterschutz einspringen, decken eine so lange Spanne ab. Ein Blick auf die Statistik der Arbeitsagentur zeigt die Realität: Mehr als die Hälfte der Arbeitslosmeldungen eines Jahres fallen in Bayern in den Sommerferien an. Nur Baden-Württemberg lässt seine Lehrer noch mehr im Stich.
Aus Sicht der Schulverwaltungen sind befristete Verträge unentbehrlich, um Arbeitsausfälle auszugleichen. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) fordert hingegen, die sogenannte Vertretungsreserve um mindestens fünf Prozent zu erhöhen. Damit würden mehr Beamtenstellen für den Vertretungsbedarf geschaffen, es müssten nicht mehr so viele Kurzzeitverträge ausgestellt werden. Das könnte auch die Zahl der Kettenbefristungen senken. Allein in Nordrhein-Westfalen betreut die GEW aktuell 15 Klagen von Lehrkräften, die nach mehreren Zeitverträgen in Folge ihre Entfristung durchsetzen wollen. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat seine Leitsätze für Kettenbefristungen im Lehramt 2014 verschärft, das könnte den Klägern entgegenkommen.
Würde Michelle Lammert am Max-Planck-Gymnasium in Trier unterrichten, wäre sie vielleicht auch dort nur befristet angestellt. Doch sie fände in Schulleiter Armin Huber wahrscheinlich einen Förderer vor. Acht Lehrer mit Vertretungsverträgen hat Huber zurzeit im Kollegium, drei von ihnen schon im dritten Jahr. Wird durch Pensionierung an seiner Schule eine Planstelle frei, besetzt er sie so lange durch Vertretungen, bis einer seiner Vertretungslehrer auf der Landesliste der Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion (ADD) den nötigen Platz erreicht, um die Stelle besetzen zu dürfen. Die ADD listet nach Fächern und Examensnoten auf und reguliert den Anspruch auf Besetzung einer Beamtenplanstelle. Natürlich ist Huber sich des Paradoxons bewusst: Er nutzt Vertretungsverträge, um bewährte Lehrkräfte aus Vertretungsverträgen zu erlösen. Immerhin kann er sich so für Kolleginnen und Kollegen einsetzen, von denen er bereits sicher weiß, dass sie seine Schule bereichern.
Huber wünscht sich Planungssicherheit, für sich als Schulleiter, für seine Schüler, für seine Lehrkräfte. Gemeinsam mit anderen Gymnasialdirektoren in Trier unterstützt er die Forderung der GEW nach einer höheren Vertretungsreserve. Kaum hat er das erzählt, muss er aber auch schon los. Eine Vertretungsstunde halten.
* Name geändert