Süddeutsche Zeitung

Lehrer-Blog zu Inklusion:Gleichmacherei ist nicht gleich gerecht

Lesezeit: 3 min

Die unreflektierte Forderung nach Inklusion macht Catrin Kurtz wütend. Sie findet: Eine kleine Fortbildung bereitet keinen Lehrer adäquat auf Unterricht mit förderbedürftigen Kindern vor. Wie soll sie individuell betreuen und gleichzeitig allen Schülern gerecht werden?

Kennen Sie die Karikatur, in der ein Elefant, eine Robbe, ein Vogel, ein Hund und ein Affe vor einem Baum stehen und ihnen verkündet wird, dass im Rahmen der Gleichberechtigung die Prüfungsaufgabe für alle gleich sei: Klettert auf den Baum! Von wegen gerecht, denkt man sich, wenn man dieses Bild anschaut. Von wegen gerecht, denke ich mir jedes Mal, wenn ich in den Zeitungen oder im Rundfunk etwas über die Inklusion an deutschen Schulen lese oder höre.

Der Tenor ist meist dieser: Inklusion - auf jeden Fall, und bitteschön noch viel mehr, das sind wir den Kindern und Jugendlichen schuldig. Schließlich wollen wir weg vom Image des europäischen Buhmannes in Sachen Bildungsgerechtigkeit.

Doch weder die Politik noch manche Eltern haben begriffen, dass Gleichmacherei nicht gleich gerecht ist. Aus meiner Alltagserfahrung kann ich sagen: Keinem Kind mit einer geistigen oder einer stark einschränkenden körperlichen Behinderung bringt es etwas, wenn es im Sinne einer vermeintlichen Gerechtigkeit an eine - in meinem Fall - Realschule kommt, wo weder die Schule noch die Lehrer auf seine Bedürfnisse eingerichtet sind.

Kleinere Klassen, Schulbegleiter und individuell ausgebildetes Lehrpersonal - all das kostet Geld, viel Geld. Doch mit dem Budget, das das Land Bayern (anderswo ist es vermutlich nicht anders) für die Integration von förderbedürftigen Schülern veranschlagt, lässt sich maximal eine Schmalspur-Inklusion umsetzen. Sagen wir es doch, wie es ist: Eine kleine Fortbildung bereitet keinen Lehrer adäquat auf den Alltag mit behinderten Kindern vor.

Inklusion findet jeden Tag statt

Ein behindertes Kind in eine Regelklasse zu setzen und den Lehrern zu sagen: Das ist jetzt Inklusion, fördert dieses Kind bitte individuell, geht auf sein Handicap ein - das jedenfalls ist nicht gerecht. Nicht gegenüber dem Kind und auch nicht gegenüber den Lehrkräften und den anderen Schülern der Klasse.

Nicht gerade leichter wird die Situation dadurch, dass wir im Schulalltag bereits mit vielen Schülern zu tun haben, die uns vor Herausforderungen stellen: Für mich persönlich findet Inklusion bereits jeden Tag statt - sie beginnt bei jenen Kindern, mit diagnostizierter LRS (Lese- und Rechtschreibschwäche) oder ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit/-Hyperaktivitässtörung). Von denen sitzen immer mehr in meinen Klassen und der Umgang mit ihnen ist nicht einfach.

Schreibe ich zum Beispiel in Klasse fünf einen Deutschaufgabe, dann bekommt Tim 20 Prozent Zeitzuschlag, Sebastian 30 Prozent, Magdalena muss die Aufgabenstellung vorgelesen bekommen und Hussein darf auf dem Computer schreiben, mit bis zu 80 Prozent Zeitzuschlag. Nicht zu vergessen, dass Tanja die Aufgabenstellung nicht im normalen DIN-A4-Format bekommen soll, sondern auf einem DIN-A3-Blatt. Das Papier ist damit fast halb so groß wie das zierliche Kind mit Sehschwäche.

Außerdem darf ich nicht versäumen, Vroni eine halbe Stunde vor jeder Schulaufgabe und jedem Test zu fragen, ob sie ihre Tabletten genommen hat, sonst kann sie sich nicht konzentrieren. Und dann ist da noch Johannes: Dem erlaubt ein ärztliches Attest (!) das Kaugummikauen während des Unterrichts. Konzentration, Sie wissen schon.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Viele dieser "Extrawürste" mögen durchaus ihre pädagogische Berechtigung haben - was weiß ich schon über die wundersame Wirkung eines Kaugummis? Aber je mehr Schüler mit individuellen Bedürfnissen in einer Klasse sitzen, desto mehr bekomme ich das Gefühl, nicht mehr allen gerecht werden zu können. Denn was ist mit den 20 Schülern, die keinen Zeitzuschlag brauchen, kein Attest oder Sonstiges haben?

Wer kann sich da noch konzentrieren?

Wenn ich eine Schulaufgabe schreibe, lese ich die Aufgabenstellung inzwischen für alle laut vor, ich kann schließlich nicht mit einem einzelnen Kind den Raum verlassen. Anschließend gibt es vier verschiedene Abgabetermine, von denen einige gar nicht mehr in meiner Doppelstunde liegen. Im Normalfall habe ich im Anschluss an die Stunde selbst gleich wieder Unterricht und muss also darauf hoffen, dass ein netter Kollege Freistunde hat und für mich die Aufsicht übernimmt. Oder wir schreiben die Schulaufgabe in die Pause hinein, dann haben besagte Schüler aber keine Pause. Oder ich schreibe in der fünften und sechsten Stunde, dann müssen sie länger bleiben - auch blöd, denn wer kann sich so spät noch konzentrieren?

Wer also kritisiert, dass an bayerischen Schulen zu wenig Inklusion stattfindet, den möchte ich gerne einmal einladen, sechs Stunden lang an meinem Schulalltag teilzunehmen.

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SZ.de/jobr/kjan
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