Gemobbte Kinder trauen sich oft nicht, sich jemandem anzuvertrauen. Und wenn sie sich doch öffnen, dann binden sie mir meist die Hände: "Bitte, Frau Kurtz, sagen Sie nichts, sonst wird alles nur noch schlimmer." Ich würde dann gerne versichern, dass diese Furcht unbegründet ist - aber kann ich das wirklich? Als Lehrerin fühle ich mich angesichts solcher Aussagen ohnmächtig und den Eltern geht es ähnlich. Sie sehen oft keine andere Möglichkeit, als ihr Kind von der Schule zu nehmen.
Damit es gar nicht erst so weit kommt, halte ich meine Augen offen, denn mit der Zeit wird man sensibel für Anzeichen. So ist es auffällig, wenn sich ein eigentlich lebenslustiges Kind immer mehr von den Mitschülern distanziert, Schulveranstaltungen meidet und in Pausen vermehrt den Kontakt zu Lehrkräften sucht, um nicht mit Mitschülern alleine zu sein. Man entwickelt als Lehrer auch ein Gespür für Kinder, die sich gerne schwächere Opfer suchen.
Marie zum Beispiel, die nicht damit umgehen kann, dass sich die Neue in der Klasse großer Beliebtheit erfreut, und nun versucht, Anhänger um sich zu scharen und die Neue zu vergraulen. Hefte sind wie vom Erdboden verschwunden, über der Turntasche der Neuen wird aus Versehen eine Wasserflasche ausgekippt, und wenn sie sich meldet, stöhnt ein Teil der Klasse auf und rollt mit den Augen.
Was da hilft? Frühzeitig eingreifen, damit die Situation nicht eskaliert. Gespräche mit allen Betroffenen suchen und: reden, reden, reden. In Sozialkompetenztrainings versuche ich, die Empathiefähigkeit der Kinder zu trainieren. Wir sprechen über soziales Miteinander und den Unterschied zwischen einer normalen Auseinandersetzung und Mobbing.
Der Fall Carsten
Manchmal allerdings muss ich mich selbst ermahnen, Verständnis und Mitgefühl für ein Mobbingopfer aufzubringen. Carsten war schon in der Grundschule als Mobber bekannt, zusammen mit seinem Freund triezte er dort systemantisch andere Schüler. In Elterngesprächen zu Beginn des Schuljahres wurde deutlich, dass viele Eltern und Kinder gar nicht glücklich darüber waren, Carsten nun in der fünften Klasse erneut zu begegnen. Die Angst war groß, dass sie weiter unter ihm zu leiden hätten.
Carsten hat dann auch tatsächlich probiert, seine neuen alten Mitschüler zu quälen. Als er spitz bekam, dass ich ein wachsames Auge auf ihn habe, verschoben sich die Aktionen in den Schulbus. Bis die anderen Kinder merkten, dass Carsten ohne seinen Freund - der es nicht auf die Realschule geschafft hat - gar nicht mehr so stark war. Sie schlossen sich zusammen und wehrten sich. Jetzt ist Carsten derjenige, der gemieden, gehänselt und geärgert wird.
Er ist vom Mobber zum Opfer geworden und muss teilweise doppelt für das büßen, was er anderen im Laufe der vergangenen Jahre angetan hat. Ein Teufelskreis.