Kritische Wirtschaftsstudenten:"Wer sagt, dass wir immer mehr Wachstum brauchen?"

Kritische Wirtschaftsstudenten: Pläne für Kreativität: Junge Ökonomen geraten weltweit ins Grübeln. In Heidelberg wird mit Filzstiften eine neue Volkswirtschaftslehre ersonnen.

Pläne für Kreativität: Junge Ökonomen geraten weltweit ins Grübeln. In Heidelberg wird mit Filzstiften eine neue Volkswirtschaftslehre ersonnen.

(Foto: C. Theile)

Wider die traditionelle Lehre: Immer mehr Wirtschaftsstudenten stellen kritische Fragen, fordern Vielfalt und klagen über althergebrachte Studieninhalte, in denen von Krise keine Rede ist. Sie wollen etwas ändern. Nur wie? Ein Abend unter jungen Ökonomen.

Von Charlotte Theile, Heidelberg

Es ist Dienstagabend, kurz vor zehn, der Hörsaal leert sich nur langsam. Überall stehen kleine Gruppen. Studenten, Dozenten, Professoren diskutieren. Wortfetzen wie "Keynes", "Euro-Krise", "grünes Wachstum" und "demokratische Steuerpolitik" schwirren durch den Raum. Axel Dreher, Professor für Volkswirtschaft an der Uni Heidelberg, schaut beeindruckt in die Runde. Gerade ist eine Podiumsdiskussion zu Ende gegangen, Dreher hat als Einziger die Thesen der neoklassischen Volkswirtschaftslehre (VWL) vertreten, der Rest der Runde hatte das Manifest der Studenten für eine "pluralere", vielfältigere Ökonomik, das seit einigen Wochen Schlagzeilen macht, unterschrieben.

Es sei eine faire, sachliche Diskussion gewesen, sagt Dreher, die Studenten seien sehr engagiert aufgetreten, in seinen Vorlesungen erlebe er das weniger. Dort säßen bis zu 300 mittelmäßig interessierte junge Leute, "den meisten geht es vor allem darum, eine gute Note zu bekommen, als wirklich etwas zu lernen", und na ja, danach richte sich dann auch das Angebot.

Das ist der Moment, in dem sich Gloria Koepke, 19 Jahre alt, nicht mehr zurückhalten kann. "Wie können Sie das sagen?", unterbricht sie den Professor. "Wie können Sie sagen, die Studenten interessieren sich nicht, wenn Sie hier gerade einen Hörsaal voller frustrierter VWL-Studenten gesehen haben?" Dreher hält dagegen, nein, also, natürlich gebe es Angebote für Studenten, die mehr wollten, er sage zu Beginn jeder Vorlesung, man solle den Economist lesen, sich über politische Zusammenhänge informieren. Aber: "Wer das nicht macht und nur Folien auswendig lernt, der kommt hier wahrscheinlich auch ganz gut durch, da haben Sie recht."

"Ich verstehe nicht, warum Sie Ihr Fach derart anspruchslos machen"

Für Gloria Koepke ist genau dies das Problem. Als sie vor zwei Jahren begann, VWL zu studieren, merkte sie recht schnell, dass "keine große persönliche Auseinandersetzung" mit dem Studienfach nötig war, dass vieles einfach nur vorgebetet und, für ihr Gefühl, zu wenig von den Studenten verlangt wurde. Inhaltliche Diskussionen etwa habe es so gut wie gar nicht gegeben. Nach zwei Semestern brach sie ab. "Da wir sowieso nur gerechnet haben, habe ich mir gedacht, da kann ich auch gleich Mathe studieren", sagt Koepke, die in der Schule eine Klasse übersprungen und deshalb schon früh Abitur gemacht hat. Inzwischen ist sie im zweiten Semester ihres Mathe-Studiums - und hat nun endlich das Gefühl, wirklich mit Ernst bei der Sache zu sein. "Ich verstehe nicht, warum Sie Ihr Fach derart anspruchslos machen", schleudert sie Professor Dreher entgegen.

Diskussionen wie diese muss der Ökonom derzeit häufiger führen. Die studentische Vereinigung, die ihn an diesem Abend als Gegenspieler eingeladen hat, heißt Real World Economics Heidelberg. Die Studenten interessiert die echte Welt samt Finanz- und Währungskrisen mehr als die Modelle, die sie im Hörsaal kennenlernen. Zudem fordern sie eine kritischere Auseinandersetzung mit den Annahmen, die der Lehre zugrunde liegen. Immer mehr junge Ökonomen gehen auf Distanz zur klassischen Wissenschaft und fordern "intellektuelle Vielfalt" - erst kürzlich das internationale Netzwerk für plurale Ökonomik mit einem Manifest.

"Sicher, dass wir keine Ideologen sind?"

Der Moderator in Heidelberg, Dominic Egger, will wissen, warum den Studenten nichts über die Geschichte des ökonomischen Denkens beigebracht werde. Auf der Twitter-Wall, die Leonie Guerrero moderiert und für die die Studenten Avatare wie @AdamSmith1305 oder @Aristoteles1305 eingerichtet haben, können die Zuhörer Fragen stellen: "Studier ich VWL oder Neoklassik?" fragt einer. Ein anderer meldet Selbstzweifel an: "Sicher, dass wir keine Ideologen sind?"

Man könnte zumindest auf die Idee kommen, dass die Studenten, die hinter dem Aufruf stehen, eine politische Meinung teilen. Soziale Anliegen - etwa ein flächendeckender Mindestlohn oder Armutsbekämpfung in Entwicklungsländern - kommen besser weg als in der etablierten Lehre. "Mindestlohn schafft Arbeitslosigkeit - viel mehr nehmen die meisten nicht aus den Vorlesungen mit. Dabei ist das Schwachsinn", schimpft Twitter-Moderatorin Leonie Guerrero später. Um sie herum werden Biergläser gehoben, wir sind deiner Meinung, heißt das wohl. Wie wichtig Studenten und Dozenten die Bewegung nehmen, wird hier deutlich: Mehr als 60 Menschen, junge und alte, sitzen nach der Veranstaltung noch in einer Kneipe zusammen und diskutieren Wirtschaftstheorie.

Der Homo oeconomicus beherrscht die Lehrpläne

Ein Student, der das Manifest mit übersetzt hat, erzählt von einer Veranstaltung mit dem Titel "Studieren in Zeiten des Aufrufs", zu der er eingeladen wurde. "In Zeiten des Aufrufs - das ist gut", lacht Christoph Gran, der im Vorstand des Netzwerks für plurale Ökonomik sitzt und die Real World Economics in Heidelberg jahrelang fast allein betrieben hat. Auf einmal scheinen sich alle für sein Anliegen zu interessieren. "Was mich besonders freut: dass die Diskussionen immer mehr inhaltlich geführt werden", sagt Gran. Es gehe darum, wo und wie sich die Lehre verändern solle.

Ein riesiger Anspruch. Doch die Studenten in Heidelberg glauben, ihn locker zu bewältigen. Auf einem Flipchart notieren sie "Ergebnisse", die sie später den Professoren übergeben, "zur Verbesserung des VWL-Studiums". Ein bisschen frech scheinen die das schon zu finden - aber die Kritiker sind an dem Abend in der Überzahl.

Vielleicht liegt es daran, dass die Kontroverse nicht so richtig in Schwung kommen will. Dominic Egger moderiert zum ersten Mal, er achtet darauf, dass die Tagesordnung eingehalten wird. Leonie Guerrero, die die Fragen aus der Twitterrunde ins Gespräch bringen soll, kommt kaum zu Wort. Gut 200 Zuhörer sitzen in dem Raum, viele auf den Treppen. Sie tippen ihre Anregungen in die Twitter-Maske. Keine einzige Frage wird laut gestellt. Immer wieder wird geflüstert: "Bist du Adam Smith?"

Silja Graupe, Professorin für Ökonomie und Philosophie, ist die Einzige, die in dieser stummen Runde Beifall bekommt. Auch sie hat den Aufruf der Studenten unterzeichnet. "Wer sagt eigentlich, dass wir immer mehr Wachstum brauchen?", fragt sie und berichtet, wie schwierig es war, alternativen Ökonomie-Unterricht einzuführen. Überall auf der Welt würden Studenten mit den gleichen Annahmen von Homo oeconomicus und Gleichgewichten unterrichtet. Wer behaupte, dahinter stecke keine politische Absicht, der verschleiere etwas, glaubt sie. Was genau verschleiert werden soll, sagt Graupe nicht.

So teilt sie an diesem Abend vor allem ein Gefühl mit ihren Zuhörern: Irgendetwas läuft schief - und ob man das ändern kann, finden sie gerade erst heraus.

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