Klischees in Schulbüchern:Wie Vater putzen lernte

Türkisch-Verbot an türkischem Gymnasium

Deutschbuch im Unterricht: Manche Klischees halten sich noch immer in den Schulbüchern.

(Foto: dpa)

Schulbücher sollen die Gesellschaft abbilden. Aber auch wenn mittlerweile Alleinerziehende oder Erkan und Aische in den Texten auftauchen - es hat lange gedauert. Und so manches Vorurteil hält sich.

Von Johann Osel

Peter und Sabine hatten ihre beste Zeit Ende der Sechzigerjahre. In der Schulzeit von Ilas Körner-Wellershaus waren das die typischen Namen, also durften die beiden allerlei Abenteuer erleben, zur Freude oder zum Leidwesen der Schüler. Und manchmal kicherte die Klasse, weil sich "was Altbackenes" im Schulbuch erhalten hatte, eine Brunhilde.

"Wir machen uns in der Redaktion Gedanken bei der Namensauswahl", sagt Körner-Wellershaus. Er ist Verlagsleiter bei Klett, dem Großverlag mit Häusern in Stuttgart und Leipzig. Schlägt er eines der heutigen Schulbücher auf, die sich in seinem Büro stapeln, kann man das sehen: Da gibt es Klassiker wie Thomas und Christine, dazu nun Leon und Laura, Cindy und Kevin. Und zuweilen lassen sich Erkan oder Aische finden. Eben wie sie in einem echten Klassenzimmer sitzen könnten.

Schulbücher sind ein Spiegel der Gesellschaft, heißt es. Ein schneller Blick in ein Deutschbuch, siebte Klasse, scheint das zu bestätigen. Da tragen Figuren nicht nur Namen von heute, sie verhalten sich auch wie ihre Leser. Da geht keiner in eine Telefonzelle, natürlich gibt es Handys; da gibt es Aufgaben über den Sinn von TV-Castingshows.

Den Deckel zieren ein blondes und ein asiatisches Mädchen, Bilder im Buch zeigen türkische Kinder. In den Texten sind auch Frauen Ingenieure, es gibt kaum schüchterne Mädchen und allzu wilde Jungen. Eine Geschichte geht so: Meike setzt eine Monstermaske auf und spielt Steffen einen Streich. Nicht umgekehrt. Die Bücher werden oft von Lehrern verfasst. Körner-Wellershaus sagt: "Die meisten Autoren stehen jeden Tag im Unterricht, die wissen, wie es im Klassenzimmer aussieht."

Kinder kennen Regenbogenfamilien

Doch Deutschland will nicht nur ein Land der Geschlechtergerechtigkeit und eine offene Einwanderungsgesellschaft sein; es ist auch längst ein Land der bunten Familien. Schüler von heute kennen Alleinerziehende, Stiefeltern, Patchwork-Familien. Jede dritte Ehe endet mit Scheidung, bei der Hälfte aller Fälle sind minderjährige Kinder betroffen. Manche kennen Regenbogenfamilien, viele sehen in den Medien Homosexualität nicht mehr am Rande der Gesellschaft. Sondern eine stetige Modernisierung der Ansichten - und der Rechtslage, auch durch die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zur Homo-Ehe.

Neulich eskalierte diese Debatte. Baden-Württemberg arbeitete an einem Bildungsplan, der sexuelle Vielfalt aufgreifen soll. "Schwul" gilt als gängiges Schimpfwort auf Schulhöfen, zugleich fehlt oft Wissen: Viele Schüler glauben, man suche sich Homosexualität aus. Einige Minister überlegen daher, wie man Toleranz und Kenntnisse fördern kann - und denken auch an die Schulbücher. Breite Proteste gab es daraufhin in Stuttgart, Borniertheit mischte sich mit falschen Behauptungen.

Kinder würden schwul gemacht, polterten Gegner und kramten abstruses Material von Homo-Aktivisten hervor, auch bei denen gibt es Spinner. Es waren Aufgaben, in denen Schüler Vibratoren und Analperlen einkaufen sollten. Bizarre Beispiele. Und die Demonstranten taten so, als ob da ein Redakteur mal eben ein Buch macht, mit einem Inhalt, wie es ihm gerade einfällt.

"Jedes Schulbuch ist ein Politikum"

"Jedes Schulbuch ist ein Politikum, es transportiert immer gesellschaftliche Positionen", sagt Eva Matthes. Die Augsburger Professorin ist Vorsitzende einer Wissenschaftlergesellschaft für Schulbuchforschung. Grundsätzlich gelte: Schulbücher sind ein "reagierendes Medium". Je mehr öffentlicher Konsens über ein Thema bestehe, desto stärker und schneller komme es in die Bücher; zunächst in Fächern wie Sozialkunde, in denen darüber debattiert wird; langsamer als beiläufiges Thema in anderen Fächern.

Schulbuchmacher streiten darüber: Soll man Konsens wiedergeben oder auch mal aufklärerisch sein? Wie weit geht bereits das genaue Abbild der Gesellschaft? Wie weit darf es, wie weit kann es gehen? Eine Erkundung des Systems Schulbuch zeigt: Schnell geht hier wenig.

Es ist ein riesiger Markt. Etwa hundert Verlage machen in Dutzenden Fächern Bücher für bis zu 13 Stufen, für alle Schularten, in 16 Bundesländern mit ihren jeweiligen Lehrplänen. Jahresumsatz: fast eine halbe Milliarde Euro. Schulbücher sind quasi Auftragsarbeiten für die Ministerien, manche Werke erscheinen in vielen Länderausgaben. Es gilt, dass niemand diskriminiert werden darf, etwa bei der Darstellung von Minderheiten. Aktive Schritte gegen die Ausgrenzung mancher Gruppen werden dagegen nicht verlangt.

Bayern ist am strengsten

Fünf, sechs Jahre oder mehr vergehen von der Idee für ein Buch bis zum Erscheinen. Die Verlage wissen, wann neue Lehrpläne kommen, oder ihre Marketingleute erkennen, dass es für ein neues Buch Bedarf gibt. Ein Konzept wird erstellt: Wie soll das Buch aufgebaut sein, welche Arten von Aufgaben?

Autoren bekommen Aufträge, Grafiker machen sich Gedanken, Redakteure koordinieren das Ganze. Schon das kann zwei Jahre dauern. Dann füllen die Team-Mitglieder ihren Bereich mit Inhalt, alle paar Monate trifft man sich. "Die Autoren gehen parallel oft in den Praxistest - in ihren eigenen Klassen testen sie Aufgaben oder geben sie an Kollegen zum Testen weiter, achten darauf, ob alles verständlich ist", sagt Körner-Wellershaus. Noch ein gutes Jahr Arbeit. Mindestens.

Bevor es die erste Auflage gibt, kommt eine "Prüfauflage", meist ein Jahr vor Erscheinen. Ein Vorab-Produkt, vor allem für Behörden. Die Begutachtung dauert ein halbes Jahr. Immer mehr Länder bieten aber "vereinfachte Verfahren". Politikbücher werden schärfer geprüft als Grundschulfibeln.

Bayern ist da am strengsten, erstellt penible Gutachten. Josef Erhard, früher Amtschef im Ministerium, hat das mal so verteidigt: "Keiner freut sich auf den Termin beim TÜV. Aber jeder ist froh, wenn beim Hintermann die Bremse funktioniert." Risiken geht man da als Schulbuchmacher eher nicht ein.

Es geht auch ums Geschäft

Mit dem staatlichen Segen haben die Verlage jedoch erst die Eintrittskarte für den Markt. An den Schulen entscheiden die Fachkonferenzen der Lehrer, welche Bücher gekauft werden. Verlage schicken Vertreter dorthin, knüpfen Netzwerke, bieten Fortbildungen für Lehrer an, präsentieren sich auf Kongressen.

Es geht ums Geschäft - Schulbuchverlage arbeiten nicht aus Mildtätigkeit. Mit der Entwicklung eines Buches treten sie in Vorleistung. Wenn nach Jahren der Arbeit ein Werk erscheint, muss der Absatz erst die Kosten decken, dann Gewinn bringen. Wenn ein Buch floppt, verliert man Geld. Ein Buch könnte floppen, falls es verschreckt, etwa mit dem Konsens zu bestimmten Themen bricht.

All das verlangsamt die Branche. Und kommt ein Werk in den Schulen an, bleibt es erst mal dort. Sechs, acht, zehn Jahre lang arbeiten Schüler mit einem Buch oder noch länger, wenn keine Lehrplanreform ansteht. Das liegt auch an den Materialkosten. Die Seiten sind reißfester als bei normalen Büchern, sie werden nicht nur von einem Schüler geblättert, müssen schokoladenverschmierte Kinderhände aushalten. Die Bindung ist teuer, Bücher müssen stets aufgeschlagen auf dem Tisch liegen.

1970 bildet der Klett-Verlag erstmals eine Frau mit Hose ab

Vom Konzept bis zur Entsorgung vergeht so schon mal ein Vierteljahrhundert. Ilas Körner-Wellershaus macht aber keinen behäbigen Eindruck. Er hat nach dem Abitur eine Lehre zum Verlagsbuchhändler gemacht, dann studiert und promoviert, Religionsgeschichte, Politik, Geschichte, war Schulbuchredakteur, wurde Programm- und Verlagsleiter. Ein findiger Wissensverkäufer, der selbst viel weiß. "Wir sind Dienstleister für die Schulen und für die Bildung", sagt er. Zwischen Markt und Macht. Wohl daher versteht sich der Verlagschef in der Kunst des Abwägens.

Die Darstellung von Frauen habe sich über Jahrzehnte "radikal gewandelt", sagt er. Aber auch: Man müsse inzwischen darauf achten, dass die Jungen nicht zu kurz kommen. Der Verlag bilde etwa alleinerziehende Mütter ab - aber auch bewusst intakte Familien, "so wie die Lebenswelt ist". Und die Lebenswelt bei der sexuellen Orientierung? In Büchern für Sozialkunde, für Ethik müssten alle Optionen bei den Familienmodellen vorkommen. "Aber wie sollen wir das im Mathebuch machen?"

Man kann mit dem Schulbuchmacher trefflich streiten über die Frage, ob das nicht einen Versuch wert wäre: Herr und Herr Schmidt kaufen ein Sofa. Über mehr Mut. Es gebe " Austausch" mit den Ministerien dazu, sagt der Verlagsleiter. "Es gibt aber keine Anweisungen dafür."

Als der Klett-Verlag 1970 erstmals eine Frau mit Hose abbildete, war die Zeit dafür reif. Längst reif, kann man im Nachhinein wohl sagen. Es gab aber keinen Beamten, auf dessen Order hin die Jeans den Rock ersetzte. Es ist ein großes Einsickern.

Revolution steht nicht auf der Agenda

Auf diese Weise findet auch so manches Vorurteil den Weg ins Schulbuch. Beispiel Migranten und Religion: Auch wenn eine Figur im Text Erkan statt Stefan heißt - es droht laut Studien die Klischee-Falle bei der Darstellung.Der zugewanderte Italiener? Oft Pizzabäcker. Der Türke? Fabrikarbeiter. Autoren des Georg-Eckert-Instituts für Internationale Schulbuchforschung haben sich dem Islam gewidmet. Muslime kämen meist "als Sondergruppe außerhalb der deutschen Mehrheitsgesellschaft" vor. Vorurteile würden so über Generationen "unreflektiert weitergetragen".

Beispiel Geschlecht und Familie: Dazu prüfte eines Soziologin im Auftrag der Max-Traeger-Stiftung die Figuren in Englischbüchern. Generell sind Männer und Frauen gleich oft vertreten. Auch werden Klischees bei Lieblingsfächern oder Sportarten von Jungen und Mädchen oft bewusst durchbrochen. Allerdings sehe man Frauen viel häufiger im Haushalt, beim Kuchenbacken, bei der Wäsche. Schwule oder lesbische Figuren hat die Autorin nicht gefunden. Die Verlage versäumten, "der gesellschaftlichen Realität Rechnung zu tragen". Bei Familien gebe es nur: Single, verheiratet, geschieden.

"Schulbücher stehen nicht an der Speerspitze des gesellschaftliche Wandels, sind aber auch nicht Bremser", meint Professorin Matthes. Sie hat das Familienbild in Sozialkundebüchern erforscht. Da ist Wandel erkennbar: In den Fünfzigern gab es die "Fixierung auf die von Gott gegebene Ehe mit Kindern", alles lief auf den Vater als Ernährer zu. In den Siebzigerjahren kam in der Sozialkunde "der absolute Bruch", Familie wurde als Ort von Konflikten präsentiert.

Die Digitalisierung könnte den Markt beschleunigen

Später hat sich der Familienbegriff ausgeweitet, heute finden auch homosexuelle Paare Erwähnung. In der beiläufigen Darstellung dagegen, wie im Mathe- oder Deutschbuch, sei das sicher nicht so. Im Großen und Ganzen pendelten sich Schulbücher auf den gesellschaftlichen Konsens ein. Das sei in den Siebzigerjahren im Zuge der Frauenbewegung anders gewesen, ohnehin war damals der öffentliche Raum politisiert.

Eine gesellschaftliche Revolution steht bei den Machern von Schulbüchern also offenkundig nicht auf der Agenda. Dafür eine andere: die des Unterrichts. Die Pisa-Studie hat gezeigt, dass in einem Jahrgang und innerhalb von Klassen die Fähigkeiten stark auseinandergehen. Das Zauberwort der Pädagogik heißt nun "Differenzierung", Frontalunterricht gilt als verpönt. Das sieht man in heutigen Büchern: Basisaufgaben für alle, ein Zusatz für Stärkere, eine Herausforderung für die Allerbesten. "Lehrer müssen auf verschiedene Geschwindigkeiten beim Lernen eingehen können", sagt Körner-Wellershaus.

Und noch etwas treibt Verlage um: Digitalisierung. Viele Schulbücher haben Online-Codes, auf Portalen finden Lehrer Ergänzungen. Dennoch wird das gedruckte Buch vorerst Leitmedium bleiben. Was nicht etwa daran liegt, dass Lehrer Technik-Muffel sind, wie eine Studie des IT-Verbands Bitkom zeigt: Viele Pädagogen fordern mehr elektronische Medien im Unterricht. Weiterführende Schulen sind heute alle online - aber nur jede zweite Schule hat in allen Räumen Netzzugang und Geräte. Für alle Schüler kaum eine.

Der Trend könnte den Markt aber beschleunigen, und damit auch gesellschaftliche Veränderungen schneller in die Bücher bringen. Im Buch verlinktes Material kann man jederzeit ändern, ein digitales Buch wäre sogar komplett im Fluss. Und manche Unachtsamkeit ließe sich nachträglich ausbügeln. Ein Buch aus der Geschlechteranalyse der Traeger-Stiftung etwa gibt sich Mühe mit der Gleichberechtigung, Fußball ist der Lieblingssport eines Mädchens. Doch dann schießt sie den Ball aus Versehen auf einen Baum. Eilig wird ein Junge gerufen: um hinaufzuklettern und den Ball zu holen.

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