Junge Obdachlose:"Ich konnte nach Unterrichtsschluss ja nirgendwo hin"

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Projektteilnehmerin Patricia (l.): Lehramtsstudierende helfen, wenn es Probleme gibt. (Foto: Mario Hausmann / Prejob)

Tausende Jugendliche sind obdachlos und verlieren mit ihrem Zuhause oft auch den Anschluss zur Schule. So wie Patricia. Jetzt hat sie ihren Abschluss nachgeholt - ohne Gong und ohne Klassen.

Protokoll von Bernd Kramer

Sie sind unsichtbar, wie Gespenster: Die Vodafone-Stiftung schätzte vor vier Jahren, dass man in Deutschland mit etwa 21 000 sogenannten entkoppelten Jugendlichen rechnen muss, 8500 davon gelten als wohnungslos. Kein Zuhause, kein Bett, kein Schreibtisch. Und keine Schule: Wer draußen lebt, verliert den Anschluss. Das Projekt Prejob in Dortmund will junge Obdachlose zum Abschluss führen - Menschen wie Patricia.

Patricia: "Meine letzte reguläre Klasse war die achte. Immer von Neuem, vier oder fünf Mal, nie bis zum Ende des Schuljahres. Meine Zwillingsschwester und ich kamen als Kleinkinder ins Heim und dann in Pflegefamilien, bis die uns wieder abgegeben haben. Wir wurden herumgereicht.

Manche Familien stellen sich das Leben mit einem Pflegekind etwas zu leicht vor. Aber Pflegekinder haben in der Regel schon ein Päckchen zu tragen. Wenn dann Pubertät dazukommt, wird es vielleicht etwas anstrengender als bei anderen Jugendlichen. Das einfachste ist es dann, sie wieder abzuschieben. Sieben Jahre waren meine Schwester und ich in unserer letzten Familie. Danach waren wir auf der Straße."

Timm Riesel, Sozialpädagoge und Leiter des Projekts Prejob: "Ich habe nie jemanden erlebt, dem die Schule scheißegal war. Fast alle Jugendliche wollten zum Unterricht gehen, als sie auf der Straße gelandet sind. Aber wenn die Unsicherheit wächst, wenn man nicht mehr weiß, ob man die nächste Nacht noch einmal irgendwo ein Bett findet, dann wird es mit der Schule schwierig. In so einer existenziellen Situation gerät die Zukunft schlicht aus dem Blick."

"Ab einer gewissen Uhrzeit macht man sich Gedanken, ob man einen Schlafplatz bekommt"

Patricia: "Unsere Pflegefamilie war ziemlich streng. Mal kam man zu spät nach Hause, mal hatte man keine Lust, Vokabeln zulernen - und sofort gab es drastische Strafen. Treffen mit Freunden wurden verboten, Ausflüge abgesagt, Geburtstagsgeschenke gestrichen. Mit solchen Erziehungsmethoden stößt man bei einer 13-Jährigen natürlich auf Granit. Schließlich wollte uns das Jugendamt eine Auslandsmaßnahme aufschwatzen. Ich habe gesagt, dass ich nicht will. Und sie meinten: Tja, dann musst du auf die Straße.

Meine Schwester und ich haben in einer Notschlafstelle übernachtet. Da bekam man warmes Essen und einen Spind für die Sachen, konnte duschen, sich die Zähne putzen. Aber spätestens morgens um 10 Uhr mussten wir raus und uns irgendwie den Tag vertreiben. Wir sind oft ins Kaufhaus gegangen. Da kann man länger mal sitzen, fällt nicht weiter auf und wird nicht gleich weggescheucht.

Ab einer gewissen Uhrzeit macht man sich so seine Gedanken, ob man einen Schlafplatz bekommt. Die Betten in der Notschlafstelle sind begrenzt. Zweimal hätten wir fast draußen übernachten müssen. Aber es haben sich in letzter Minute Bekannte gefunden, bei denen wir schlafen konnten.

Anfangs habe ich weiter versucht, zur Schule zu gehen. Aber meine Schule war 12 Kilometer entfernt, und ich hatte kein Ticket. Ein paar Mal wurde ich beim Schwarzfahren erwischt. Zum Leben hatte ich bloß mein Kindergeld, da fragt man sich, wie oft man das Risiko in Kauf nehmen will.

Es ist gar nicht so einfach, einen Tagesablauf mit regelmäßigen Schulbesuchen aufrecht zu erhalten. Ich konnte nach Unterrichtsschluss ja nirgendwo hin, um mich auszuruhen und musste erst mal die Stunden rumkriegen, bis ich wieder in die Notschlafstelle konnte. Wenn man den ganzen Tag unterwegs ist, ist man froh, wenn man ausschlafen kann, bis die Notschlafstelle schließt."

Jugendlicher in einer Notschlafstelle in Essen: Den wenigsten sieht man die Obdachlosigkeit an. (Foto: picture alliance / dpa)

Timm Riesel: "Patricia war eine Sofa-Hopperin. Sofa-Hopper schlafen nicht unter Brücken, sie kommen mal hier, mal dort unter. Deswegen ist es für uns Streetworker schwieriger geworden, die Menschen zu erreichen. Wir haben in den vergangenen Jahren bemerkt, dass die Szenetreffpunkte längst nicht mehr so belebt sind. Wohnungslose Jugendliche lungern nicht in Gruppen am Hauptbahnhof herum, sie suchen Zuflucht im privaten Raum. Früher konnten sie die Obdachlosigkeit leicht als Rebellion gegen die Welt der Erwachsenen umdeuten, heute überwiegt Scham."

Patricia: "Von September bis März war ich auf der Straße. Wenn man den Winter da verbringt, gibt man irgendwann auf. Also habe ich der Auslandsmaßnahme zugestimmt.

Zuerst war ich auf der Krim, dann durfte ich mit einer anderen Jugendlichen an die Küste ziehen. Eine Art Belohnung. Meine Betreuer haben mit der Zeit gemerkt, dass ich ein stinknormaler Teenager war, und mir mehr erlaubt und ermöglicht, als eigentlich vorgesehen war. Aber die Maßnahme musste wegen des Ukraine-Konflikts abgebrochen werden.

In Deutschland habe ich bald einen neuen Freund kennen gelernt, bin mit ihm zusammengezogen und schnell schwanger geworden. Aber die Beziehung hielt nicht und ich brauchte eine neue Wohnung. Ich habe mich an die Beratungsstelle der Off Road Kids gewandt, sie haben mir bei der Suche geholfen. Nach der Elternzeit habe ich dann angefangen, meinen Schulabschluss nachzuholen - hier bei Prejob, direkt gegenüber von der Beratungsstelle."

Prejob Leiter Timm Riesel: Mit den Jugendlichen besprechen die Mitarbeiter des Projekts jeden Montag einen Wochenplan. (Foto: Mario Hausmann / Prejob)

Timm Riesel: "Auch Patricia wirkte nicht wie eine Obdachlose, als ich sie kennen lernte. Sie stand nicht mit abgerissenen Klamotten hier vor der Tür, sie sah aus wie ein normaler Teenager.

Wenn die Jugendlichen zu uns kommen, machen wir als Erstes zusammen mit der Flex-Fernschule eine sogenannte Bildungsstandanalyse und überprüfen, wie weit das Schulwissen reicht. Jeden Montag bekommen unsere Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein Wochenpaket mit Lernbriefen und Aufgaben, das individuell auf ihren Kenntnisstand abgestimmt ist. In der Regel besprechen wir dann einen Wochenplan: Was glaubst du, wie viel Zeit du für die Aufgaben brauchst? Willst du vielleicht jetzt schon einen Nachhilfetermin vereinbaren? Was liegt sonst noch bei dir an? Gibt es Termine mit Ämtern? Arztbesuche?

Wir haben keinen Gong. Die Jugendlichen können kommen, wie es ihnen passt. Viele sind keine feste Tagesstruktur mehr gewöhnt, deshalb wollen wir ihnen den Einstieg so leicht wie möglich machen. Wer kein Frühaufsteher ist, muss nicht um neun Uhr bei uns aufkreuzen.

Die Aufgaben lösen die Jugendlichen eigenständig, aber wir haben Lehramtsstudenten vor Ort, die bei Fragen sofort weiterhelfen. Oder unsere Schüler kontaktieren per Mail oder Videochat die Lehrkräfte in der Fernschule. Die erklären im Notfall vor der Kamera den Stoff auch an der Tafel."

Projektteilnehmerin Patricia (r.): "Dass es hier keine regulären Unterrichtszeiten gibt, war für mich perfekt". (Foto: Mario Hausmann / Prejob)

Patricia: "Dass es hier keine regulären Unterrichtszeiten gibt, war für mich perfekt. So konnte ich mich nach den Zeiten der Tagesmutter richten. Natürlich bin ich oft abends zu Hause mit meiner Tochter auf dem Sofa eingeschlafen."

Timm Riesel: "Du hast Zeit gebraucht, um wieder in den Alltag zu finden. Aber ich glaube, für dich war es nicht schwer, den inneren Schweinehund zu überwinden."

Patricia: "Ich hatte mein Ziel sehr klar vor Augen, deswegen hat das geklappt."

"Kürzlich ist jemand für ein halbes Jahr vom Radar verschwunden"

Timm Riesel: "Im Moment haben wir 28 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Es passiert immer wieder, dass Schüler eine Weile nicht auftauchen. Manchmal verschlafen sie und schämen sich so sehr, dass sie zwei Tage nicht kommen. Aber das sind die leichteren Fälle.

Kürzlich ist jemand für ein halbes Jahr vom Radar verschwunden. Wir haben angerufen und auf die Mailbox gesprochen, Whatsapp-Nachrichten geschrieben. Wir sind zu ihm gefahren und haben eine Karte eingeworfen und am nächsten Tag überprüft, ob der Briefkasten geleert wurde. So wussten wir immerhin, dass wir ihn erreicht haben und nichts Schlimmeres passiert ist. Aber keine Rückmeldung zu bekommen ist schwierig. Auch die Fallmanagerin von der Arbeitsagentur kam nicht an ihn heran. Wir konnten nur abwarten.

Vor ein paar Wochen stand er wieder vor der Tür. Er hatte eine depressive Phase gehabt und einfach nicht die Kraft, sich an uns zu wenden."

Es gibt keinen Gong und keine Klassen. Die Jugendlichen können kommen, wann sie wollen; die Aufgaben lösen sie eigenständig. (Foto: Mario Hausmann / Prejob)

Patricia: "Im vorigen Sommer habe ich meinen Hauptschulabschluss geschafft, in diesem Jahr meinen Realschulabschluss mit einem Schnitt von 1,4. Jetzt gehe ich zu einem Berufskolleg, um das Fachabitur zu machen. Anschließend will ich studieren, das war schon lange der Plan."

Timm Riesel: "Patricia war unsere erste Absolventin. Als unser Projekt 2017 startete, waren wir ziemlich optimistisch. Wir dachten, so ein superindividueller Ansatz zündet schnell, es dauert vielleicht ein Jahr oder eineinhalb, bis die Leute ihren Abschluss haben. Aber die Lücken in der Bildungsbiografie sind bei den meisten doch sehr viel größer. Im Schnitt liegt der letzte Schulbesuch bei unseren Jugendlichen etwa drei Jahre zurück. Aber meistens sind sie schon in den Jahren davor unregelmäßig zum Unterricht gegangen. Die tatsächliche Lücke liegt bei vielleicht sechs, sieben Jahren. Da fehlt viel Stoff.

Patricias Abschluss haben wir natürlich gefeiert, mit einem Besuch in einem türkischen Restaurant. Sie darf zurecht stolz sein. Und ich habe gemerkt, dass ihr Beispiel den ein oder anderen hier motiviert hat. Sie haben gesehen: Ja, man kann das schaffen. In diesem Sommer hat der zweite Teilnehmer den Abschluss erreicht."

Patricia: "Ich will Sozialpädagogin werden - weil ich finde, dass bei uns so vieles schiefgelaufen ist und man es besser machen sollte. Man muss Familien früh genug helfen, damit Pflegekinder nicht irgendwann aus ihnen herausgerissen werden. Aber ich schwanke noch, ob ich später wirklich mit Familien arbeiten will; ich könnte ich mir auch Tätigkeiten in einer Justizvollzugsanstalt vorstellen. Was teilweise mit Kindern angestellt wird, möchte ich nicht so gern mit ansehen."

© SZ vom 21.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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