Josef Kraus:Der Patriarch

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Bildungsnotstand, Helikopter-Eltern, Pisa-Schwindel: Josef Kraus begleitet das deutsche Bildungswesen seit Jahrzehnten mit polternder Kritik und ehrlicher Sorge. Nun geht er in den Ruhestand.

Von Anna Günther und Hans Kratzer

Ein Café in Ergolding bei Landshut, mitten in Niederbayern. Hier lebt und arbeitet Josef Kraus, wenn er nicht gerade unterwegs ist. Und Kraus ist oft unterwegs. An den Tischen sitzen Best-Ager-Paare beim Nachmittagskaffee, daneben kichernde Damenkränzchen mit Tortenstücken auf den Tellern. Josef Kraus spricht über sein neues Buch, es geht um die Bildungskrise. Natürlich. Mühelos übertönt er die anderen Gäste, hat sichtlich Spaß daran, zu formulieren, zu diskutieren, zu provozieren. Mitten im Satz bricht Kraus ab, strahlt und sagt: "Ich hab mir übrigens zwei Motorräder gekauft, wollen Sie die sehen?" Er zückt sein Handy und sucht mit schnellen Wischbewegungen nach den Fotos. Andere Leute präsentieren mit dieser Begeisterung ihre Enkelkinder. Kraus schiebt das Handy über den Tisch. "Das ist eine BMW K 1300 R und das da ist eine Triumph Rocket III, die wiegt 370 Kilogramm. Es ist das größte Motorrad, das es gibt."

Wie singt Udo Jürgens in seinem berühmten Schlager? "Ich kauf mir ein Motorrad und einen Lederdress, und fege durch die Gegend mit 110 PS ..." Mit 66 Jahren machte Kraus also den Motorradführerschein. Die schwere Triumph ist sinnbildlich für das Selbstverständnis des Sport- und Deutschlehrers, der noch immer ein passabler Hammerwerfer ist; vor einigen Jahren wurde er bayerischer Seniorenmeister. Kraus geht gern ans Limit, weicht selten einer Herausforderung aus.

Kraus kokettiert mit seinem "Unruhestand" und hält nach wie vor 100 Vorträge im Jahr

Seit 1987 ist Josef Kraus Präsident des Deutschen Lehrerverbands (DL), und man kann getrost behaupten, dass er in dieser Funktion die Bildungspolitik in Deutschland mitgeprägt hat. Nun aber ist Schluss, Kraus wird an diesem Montag sein Amt niederlegen. Bereits vor zwei Jahren ist er als Pädagoge und Psychologe in den Ruhestand verabschiedet worden, mehr als 20 Jahre lang hatte er bis dahin das Montgelas-Gymnasium im niederbayerischen Vilsbiburg geleitet. Nun verabschiedet er sich auch vom Lehrerverband, der mehr als 160 000 Pädagogen vertritt, aber im Lauf der Zeit mehr und mehr hinter der Omnipräsenz seines Präsidenten verschwunden ist. Wählen die etwa 70 Abgesandten der fünf Mitgliedsverbände in Berlin wie erwartet, wird Heinz-Peter Meidinger das Amt des Lehrerverbandspräsidenten übernehmen. Seit 13 Jahren ist Meidinger Chef des Deutschen Philologenverbands, der Interessensvertretung der Gymnasiallehrer. Für den Deutschen Lehrerverband bedeutet der Abschied von Kraus eine Zäsur. Meidinger will den Verband neu ausrichten.

Der 67-jährige Kraus kokettiert derweil mit seinem "Unruhestand" und hält nach wie vor 100 Vorträge im Jahr. Zehntausende Zuhörer hat er angelockt, in den TV-Talkshows ist er Stammgast. Sein bayerischer Zungenschlag, sein liberalkonservatives Weltbild und sein kantiges Selbstbewusstsein prädestinieren ihn für die Rolle des Provinzlers. Allzu gerne wird er als Außenseiter aus dem Süden eingeladen, eine Position, die ihn erst recht anstachelt. Zum Beispiel, wenn er über die Trümmer klagt, welche die reformwütige deutsche Bildungspolitik und die Bildungswissenschaft seit den Sechzigerjahren hinterlassen hätten. "Wider besseres Wissen und wider jede Vernunft", wie Kraus es formuliert. Er kritisiert seit mehr als drei Jahrzehnten alle, die aus seiner Sicht daran schuld sind.

Die Mängel des deutschen Schul- und Bildungssystems hat er in mehreren Büchern gegeißelt, fast alle waren Bestseller. Seine Werke über die "Spaßpädagogik" (1998), den "Pisa-Schwindel" (2005) und die Bildungsdebatte (2009) sind Plädoyers für die Bewahrung alter Ideale und gegen eine "Spaß- und Erleichterungspädagogik", die alles nach unten nivelliere. Aufsehen erregte Kraus 2013 mit seinem Buch über "Helikopter-Eltern", die ihre Kinder zu einem Gesamtkunstwerk formten. Für Kraus zeigt dieses Phänomen das Problem einer Gesellschaft, die Kindern entweder gar keine Fürsorge oder viel zu viel gewähre. Kinder würden durch Überidentifikation und Überbehütung zu unmündigen Erwachsenen gemacht. Sein jüngstes Buch drückt schon im Titel die Summe der Kraus'schen Bildungsthesen aus: "Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt". Bei allen Diagnosen und Analysen über falsche Strukturen, falsche Vorgaben und über die falsche Sprache in der Pädagogik, die Kraus in diesem Buch ausbreitet, macht er aber deutlich, dass für ihn noch nicht alle Hoffnung verloren ist.

Es kam nicht von ungefähr, dass Kraus 1995 beinahe Kultusminister in Hessen geworden wäre. Seitdem gilt er als eines der markantesten Gesichter in den deutschen Bildungsdebatten. Ein Ideologe mit Linksdrall war er allerdings nie. Kraus gefällt sich in der Rolle des konservativen Knochens. Er wettert aber im Namen der Bildung nicht nur gegen rote und grüne, sondern auch gegen schwarze Bildungspolitik. Das bekam besonders die CSU zu spüren, nachdem sie 2004 übereilt das achtjährige Gymnasium in Bayern eingeführt hatte. Kraus stand lautstark an der Spitze der G-8-Gegner.

Seine Grundüberzeugung lautete stets: "Schulpolitik muss konservativ sein!" Diese Haltung vertritt er in seinen Büchern und Vorträgen sowie in den Talkshows kompromisslos. Kraus hat kein Problem damit, bei einer Veranstaltung der Liberal-Konservativen Reformer, einer Partei von AfD-Gründer Bernd Lucke, aus seinem neuesten Buch vorzulesen, wie kürzlich in München. "Ich spreche dort, wo ich eingeladen werde", sagt Kraus dazu. Ein wenig gestaunt habe er aber schon: weil er zum ersten Mal in München plakatiert wurde, weil er so oft darauf angesprochen wurde und weil einige Plakate mutwillig zerstört wurden. Bevor er mit der Lesung begann, zählte er erst einmal genüsslich auf: 30 Jahre Präsident des Lehrerverbands, fünf Bücher, 2000 Abiturienten, 118 Kultusminister in den Bundesländern. Eine Bilanz nach seinem Geschmack.

"Eine Art Guru-Status hatte er schon als junger Mann", sagt Heinz-Peter Meidinger. Und eine Vorliebe für schwere Motoren. Die beiden begegneten sich 1984 zum ersten Mal, Meidinger und Kraus fuhren gemeinsam zu einer Tagung. Meidinger war im Vorstand der Junglehrervertretung in Bayern, Kraus der Vorsitzende des Bundesverbands. "Er fuhr schon als Studienrat die dicken Siebener-BMW, die waren zwar uralt und hatten bis zu 300 000 Kilometer drauf, aber der Auftritt war ihm wichtig", sagt Meidinger. Die Fahrt dauerte sechs Stunden. "Geredet hat nur einer, das war er." Lehrreich sei das gewesen, Meidinger lacht. Er darf so etwas sagen, die beiden kennen sich seit Jahrzehnten und leben nicht weit voneinander entfernt in Niederbayern.

Als Kraus am Vilsbiburger Gymnasium verabschiedet wurde, scherzte Bayerns Schulminister Ludwig Spaenle, er wolle sichergehen, dass der Unruhestifter Kraus auch wirklich in Pension gehe. Meidinger leistete sich einen anderen Gag: "Es gibt nur drei Sepps, die man kennt: Blatter, Maier, Kraus." Und nicht nur Blatter sei sehr von sich überzeugt. Im Gegensatz zu Blatter habe Kraus aber den Sepp abgelegt, als er Chef des Lehrerverbands wurde. "Vielleicht klang ihm das zu bajuwarisch, auf einmal unterschrieb er mit Josef Kraus", sagt Meidinger. Für ihn bleibt er jedenfalls "der Sepp".

Einen wie Kraus, sagt Meidinger, "wird es so schnell wohl nicht mehr geben"

Beide kämpften vehement gegen das G 8, bei beiden hört man die konservative Sichtweise bayerischer Gymnasialdirektoren deutlich heraus. Meidinger führt an seiner Schule, dem Deggendorfer Robert-Koch-Gymnasium, den G -9-Versuch Mittelstufe Plus durch, der dazu beitrug, dass die CSU in Bayern das G 8 beerdigen wird. Im Auftreten aber könnten die beiden Männer nicht unterschiedlicher sein. Meidinger kann poltern, ist aber meist diplomatisch, greift zum Florett statt zum Säbel. "Aber auch wenn ich oft anders formulieren würde, schätze ich ihn sehr. Und Kraus hat meistens recht", sagt der 62-Jährige. Josef Kraus habe eine mediale Aufmerksamkeit für Bildungsthemen geweckt wie keiner vor ihm. "Kraus war der DL, und der DL war Kraus", sagt Meidinger. Dass die Verbands-Homepage nach 30 Jahren auch Werbeplattform für die Bücher des Präsidenten ist - geschenkt. "Einen wie ihn wird es so schnell wohl nicht mehr geben."

Gerade deshalb will Meidinger den Deutschen Lehrerverband nach drei Jahrzehnten Kraus-Konzentration in eine andere Richtung führen. Der Verband müsse sich öffnen, bisher habe der Fokus zu stark auf Union und FDP gelegen. "Um bildungspolitisch zu wirken, müssen wir mit allen sprechen", sagt Meidinger. Seine Hauptaufgabe sei es, den Verband breiter aufzustellen und die Vizepräsidenten der Mitgliedsverbände stärker einzubeziehen. Er sieht sich als Präsident des Übergangs, 2020 geht der gebürtige Regensburger in Pension. Danach soll Schluss sein mit der Verbandsarbeit. Ein Lehrerverbandschef müsse Schulalltag erleben, findet Meidinger. Den Übergangsjob sieht er als Chance: "Ich kann gestalten und mich auf inhaltliche Fragen konzentrieren, Wiederwahl und Machterhalt müssen mich nicht kümmern."

Meidinger will die großen Themen anpacken, einheitliche Lösungsideen erarbeiten und mit dem Konsens der Verbände etwas bewegen. Im Verband sind Berufsschul-, Gymnasial-, Realschul- und Wirtschaftsschullehrer sowie Erzieher organisiert. Die Qualität und Vergleichbarkeit der Schulabschlüsse, Förderung von Migranten und die Entwicklung des Schulsystems gehen alle etwas an. "Wir müssen weg von der Schlagwort-Diskussion und tiefer in die Themen einsteigen", sagt Meidinger.

Kraus wird dabei sicher mitmischen. Sein nächstes Großprojekt ist längst in Planung: Nach der Bundestagswahl will er eine Stiftung gründen, die Gesellschaft für Bildungspolitik. Interessenten habe er viele, sagt Kraus, nur Politiker und "Vereinsmeier", die sollen draußen bleiben.

© SZ vom 15.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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