Jahrgangsübergreifendes Lernen:Pädagogische Idee prallt auf Multikulti-Realität

Erstklässler

Jüngere Schüler sollen von älteren lernen, schwächere von fixeren mitgezogen werden - das ist die Idee hinter klassenübergreifendem Lernen.

(Foto: Jonas Güttler/dpa)

Euphorisch starteten viele Lehrer, die Bildungspolitiker jubelten. Doch nach massiven Protesten steht das jahrgangsübergreifende Lernen, kurz: Jül, in Berlin vor dem Aus. Besonders in Brennpunktschulen stößt das Konzept an seine Grenzen.

Von Kathrin Schwarze-Reiter

Die Sonnen-, Mond- und Sternenkinder müssen nun wieder in ihren eigenen Sphären kreisen. Die Lehrer wollen sie lieber getrennt voneinander zum Leuchten bringen. Nach diesen Gestirnen benennt man in den jahrgangsübergreifenden Klassen die einzelnen Schüler, um sie altersmäßig unterscheiden zu können. Doch nun halten viele Lehrer nichts mehr davon, die Sonnen, Monde und Sterne in einer Klasse zu mischen.

Immer mehr Schulen - vor allem in Berlin - schaffen den jahrgangsübergreifenden Unterricht, kurz Jül, wieder ab. Ein Drittel der Berliner Grundschulen, nämlich 114 von derzeit 367, wird zum Schuljahr 2013/14 wieder zu den klassischen Klassen zurückgekehrt sein. 19 Schulen bieten dann beide Formen an.

Einst war die veränderte Schuleingangsphase - so nennt man die Reform mit der Zusammenfassung der ersten Klassen - 2005 für alle Berliner Grundschulen verpflichtend eingeführt worden. Euphorisch starteten viele Lehrer, die Bildungspolitiker jubelten. Dahinter steht diese Idee: Jüngere Schüler sollten von älteren lernen, schwächere von fixeren mitgezogen werden. Jeder in seinem Lerntempo arbeiten, am besten in Gruppen ohne Frontalunterricht. Lehrer sollten in Teams unterrichten und dadurch entlastet werden.

Nirgends startete man so enthusiastisch wie in Berlin

Grundschulen in Baden-Württemberg, Berlin, Brandenburg, Schleswig-Holstein und Thüringen mischen ebenfalls seit einiger Zeit die Klassen eins bis drei, teils auch vier bis sechs. In anderen Bundesländern wird mit Jül experimentiert. Doch nirgends startete man so enthusiastisch wie in Berlin. Und nirgends ist man so hart auf dem Boden der Wirklichkeit aufgeschlagen. Das altersgemischte Lernen gerät zu einer der Bildungsreformen, die an der Realität scheitern.

Nach massiven Protesten und einem Brandbrief an Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) vergangenes Jahr, dürfen die Schulen nun wieder frei wählen, wie sie ihre Schüler unterrichten. Zu hoch war die Unzufriedenheit über die schlechten Rahmenbedingungen. Seither kehrten 19 der 29 Grundschulen im Multi-Kulti-Stadtteil Neukölln zu den Jahrgangsklassen zurück. Auch im bürgerlichen Einfamilienhaus-Stadtteil Reinickendorf will die Hälfte der 31 Schulen keinen Mix mehr.

"Wir hatten wirklich große Erwartungen an die neue Unterrichtsform", sagt eine Neuköllner Schulleiterin, die anonym bleiben möchte. "Aber Schüler, die noch nicht gut Deutsch sprechen, müssen erst einmal auf den gleichen Stand wie ihre Mitschüler gebracht werden. Oft bremsen sie leider die ganze Gruppe." Die Schulleiterin beklagt den enormen Zeit- und Kraftaufwand für die Lehrer. Daher hätte das Kollegium nach langem Überlegen entschieden, Jül wieder abzuschaffen. "Für die Eltern machte das keinen großen Unterschied - sie nahmen beide Unterrichtsformen als gegeben hin."

Ist Multi-Kulti ein Jül-Killer? Das kann Thorsten Metter, Sprecher der Berliner Bildungsverwaltung, so nicht belegen. Doch er räumt ein, dass unter den Berliner Schulen, die Jül abgewählt haben, besonders viele sind, an die Schüler ausländischer Herkunft und aus ärmeren Familien gehen. Im Klartext: Brennpunktschulen.

"Jül ist in heterogenen Schulen sehr erfolgreich"

Ursula Carle, Professorin für Grundschulpädagogik an der Uni Bremen, ist da anderer Meinung. Sie erforscht seit Jahrzehnten jahrgangsübergreifenden Unterricht und fand keinen Anhaltspunkt für dessen Scheitern in der Sozialstruktur. "Sie ist nicht relevant", sagt Carle. "Bremen ist ein gutes Gegenbeispiel. Jül ist dort in den heterogenen Schulen sehr erfolgreich."

Fest steht allerdings, die Anzahl der "Verweiler" ist laut Senat seit Einführung von Jül enorm gestiegen: von 4,5 Prozent (2007), auf 6,7 Prozent (2010) bis hin zu etwa 14 Prozent (2011). Mit dem "Verweilen" soll lernschwachen oder zu verspielten Kindern die Chance gegeben werden, ein Jahr länger in der Grundschule zu bleiben, ohne dass dies als Sitzenbleiben gewertet wird.

Lehrer müssen sich stärker umstellen

"Die größten Probleme haben Kinder, die entwicklungsverzögert sind und für die Lehrkräfte kein passgenaues Angebot unterbreiten können", sagt Cornelia Flader, Schulleiterin der Heinrich-Seidel-Grundschule in Berlin-Wedding. Ihre Schule will trotz aller Schwierigkeiten an Jül festhalten. Problematisch sei, wenn sich Lehrer auf das Abarbeiten von vorgefertigten Unterrichtsmaterialien beschränkten, sagt sie. Sprich: Die Lehrer müssen sich stärker umstellen. Flader wünscht sich deshalb durchgängig zwei Pädagogen, für die sonderpädagogische Förderung besser drei. Dann könne Jül zu einem Erfolg werden.

Doch das alles kostet Geld, das Berlin nicht hat. Die Senatsverwaltung spielt den Ball zurück an die Schulen: "Jedes pädagogische Konzept muss vor allem von denjenigen ausgestaltet werden, die es vor Ort umsetzen sollen", sagt Metter. Die SPD hält Jül weiter für den richtigen Weg, will aber den Schulen die Entscheidung überlassen. CDU und FDP hingegen sehen Jül als gescheitert an. Doch sie geben sich vorerst damit zufrieden, dass die Schulen entscheiden können. Der Trend arbeitet ohnehin für sie.

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