Intelligenz:Es muss nicht jeder Einstein sein

Lesezeit: 3 min

Nicht aus jedem Kind wird eine Jahrhundertmusikerin, ein Nobelpreisträger oder eine Olympionikin. Und das ist völlig in Ordnung. (Foto: imago/Panthermedia)

Wir machen uns viel zu viele Gedanken über Intelligenz, der IQ ist kein Wertstempel. Ein Aufruf zur Entspannung.

Gastbeitrag von Julian Möhlen

Ist Intelligenz angeboren? Diese Frage wird immer wieder heiß debattiert, so vor einigen Wochen auch in der SZ. Die Hitze der Debatte liegt aber nicht an den wissenschaftlichen Meinungsverschiedenheiten. Die Aufregung rührt daher, dass uns die Antwort viel zu wichtig ist.

Warum interessieren uns Gene und Intelligenz überhaupt so sehr? Weil wir dringend die biologischen und psychologischen Details erfahren wollen? Die sind sicherlich wissenswert, keine Frage. Aber was das Thema so spannend macht, ist seine gesellschaftliche Brisanz. Wir wollen wissen, was Intelligenz und Vererbung für unser Bildungssystem und unsere Kinder bedeuten: Könnte jeder prinzipiell alles erreichen? Ist unsere Gesellschaft ungerecht, oder ist die Natur ungerecht? Wie viel sollte man von seinen Kindern erwarten? Und wie viel von sich selbst?

Diese Fragen bereiten mir die größten Sorgen. Denn hier treffen Werte auf Wissenschaft. Und wann immer das passiert, besteht die Gefahr der Vermischung und der Verwechslung. Selbstverständlich ist Forschung nie losgelöst vom Rest der Gesellschaft. Wir sollten aber nicht moralische Werte von Fakten ableiten oder wegen unserer moralischen Werte wissenschaftliche Argumente verwerfen. Das würde weder unseren Werten noch der Wissenschaft gerecht.

Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen der Erblichkeit und der Veränderlichkeit von Intelligenz. Angenommen, Intelligenz wäre zu 100 Prozent vererbt, warum wären das bewegende Neuigkeiten? Weil wir daraus schlussfolgern würden, dass sich Intelligenz von der Befruchtung an nicht mehr verändern ließe durch Ernährung, Bildung, Erziehung, Motivation oder dergleichen. Dieser Schluss ist allerdings voreilig.

Rechenschwäche
:Sind die Gene schuld - oder die Lehrer?

Um die sechs Prozent der Grundschüler sollen Studien zufolge massive Probleme mit dem Rechnen haben. Experten streiten, ob die Diagnose Dyskalkulie ihnen hilft oder schadet.

Von Larissa Holzki

Im Oktober letzten Jahres gab der Populationsgenetiker Robert Plomin in der Zeit ein eindrucksvolles Beispiel: Untersuche man den Body-Mass-Index (BMI) der hungernden Nachkriegsbevölkerung in Deutschland, so würden sich nur geringe genetische Einflüsse zeigen. Damals wurde der BMI hauptsächlich durch das mangelnde Nahrungsangebot bestimmt. Heutzutage allerdings, da fast alle Menschen in Deutschland eine ausgewogene und mehr als ausreichende Ernährung genießen, wird der BMI viel stärker vererbt.

Der Grad der Erblichkeit kann also verschieden ausfallen, je nach den Gegebenheiten. Für die Intelligenz heißt das: Selbst wenn wir feststellen sollten, dass sie zu 100 Prozent vererbt wird, wäre dieser Befund nur unter den herrschenden Bedingungen gültig. Ob Intelligenz sich in einer anderen Umwelt - etwa einem fundamental anderen Erziehungsstil - nicht doch verändern ließe, wissen wir nicht.

Wichtig ist auch der Unterschied zwischen Intelligenz und Bildung. Angenommen, Intelligenz ließe sich doch nicht verändern, warum wären das bewegende Neuigkeiten? Weil wir schlussfolgern würden, dass Bildungschancen - und damit Lebenschancen - in Stein gemeißelt stünden. Aber weder geht es bei Bildung um Intelligenzförderung, noch ist Intelligenz der einzige Faktor für Bildungserfolg. Intelligenz mag Bildung begünstigen, aber Bildung kann unabhängig von Intelligenz glücken oder scheitern.

Deshalb ist es für unser Bildungssystem weitestgehend irrelevant, ob Intelligenz vererbt wird oder ob sie sich verändern lässt. Wenn wir wegen deterministischer Neuigkeiten aus der Genetik unsere Kinder nicht mehr fördern wollten, dann müssten wir glauben, dass nur intelligente Kinder überhaupt etwas lernen können.

Das ist natürlich Unfug. Schon das aus der Bibel bekannte Gleichnis von den anvertrauten Talenten lehrt uns: Es kommt nicht darauf an, mit welchen Möglichkeiten man dasteht, sondern was man aus ihnen macht. Selbstverständlich heißt das in der Praxis, dass wir alle Kinder ermutigen sollten, sich zu verbessern, wachsen zu wollen.

Rechenschwäche
:"Kinder mit Dyskalkulie werden behandelt, als sei ihnen nichts beizubringen"

Dabei sei es möglich, jedem Kind Grundlagen im Rechnen zu vermitteln, sagt ein Mathedidaktiker. Er hält die Rechenstörung für eine Ausrede der Schulen.

Interview von Larissa Holzki

Aber dieser Optimismus hat auch eine gefährliche Kehrseite. Nämlich die der Schuld am Versagen. Wenn jeder prinzipiell alles werden kann, dann trägt auch jeder von einem gewissen Punkt an selbst Schuld am eigenen Scheitern. Ja, wir können von Schülern ein Mindestmaß an Leistungen einfordern, wenn wir sie im Gegenzug angemessen fördern. Aber Schüler müssen sich unabhängig von ihren Leistungen als Menschen angenommen fühlen, um überhaupt die richtige Atmosphäre fürs Lernen zu genießen.

Diese Botschaft mag offensichtlich erscheinen, doch geht sie häufig unter. Am Ende wird natürlich nicht aus jedem Kind eine Jahrhundertmusikerin, ein Nobelpreisträger oder eine Olympionikin. Und das ist auch vollkommen in Ordnung so. Denn aus jedem Kind kann dennoch ein glücklicher und zufriedener Mensch heranwachsen, ein wertvolles Mitglied unserer Gesellschaft. Ist das nicht viel mehr wert als alle Intelligenz?

Manchmal beschleicht einen das Gefühl, dass wir Intelligenz zu einem Lebensziel erhoben haben. Aber sie ist kein Lebensziel, ein IQ kein Wertstempel. Nichts ist in einem Leben schiefgelaufen, wenn man nicht intelligent ist. Unsere Gesellschaft braucht dringend einen entspannteren Zugang zu Intelligenz. Dann ließe sich auch die wissenschaftliche Diskussion über ihre Erblichkeit viel leichter führen.

© SZ vom 28.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

IQ-Test
:Wie hoch ist Ihr Intelligenzquotient?

Logische Schlüsse, analytisches Denken: Jonglieren Sie mit Wörtern, geometrischen Formen, Zahlen und prüfen Sie, wie gut Sie bei diesem Intelligenztest im Vergleich abschneiden.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: