Integration in der Schule:Im Blindflug

Die neuen Kinder von Golzow

Das "Integrationsexperiment" begann im Herbst 2015, aus dieser Zeit stammt auch dieses Bild. Es zeigt eine Grundschulklasse im brandenburgischen Golzow im Oderbruch, unter den singenden Erstklässlern sind drei Flüchtlingskinder.

(Foto: dpa)

300 000 geflüchtete Kinder und Jugendliche kamen 2015 ins Land. Ist es gelungen, sie zu integrieren? Ein neues Buch gibt eine Antwort, die so ernüchternd wie erhellend ist.

Von Alex Rühle

Schönen guten Morgen, Ihr Kultusministerinnen und Bildungsminister in den sechzehn deutschen Ländern! Lasst Euch doch bitte zum Start der Woche dieses kleine Buch vom Dudenverlag schicken, lest es (dauert nicht lang, schlanke 127 Seiten) und dann setzt Euch zusammen, am besten noch mit Kollegen aus den Wirtschaftsministerien, und macht endlich Eure Hausaufgaben. "Es klingt schwer vorstellbar", schreibt Anant Agarwala in seinem Nachwort, "aber kein Bildungsministerium in Deutschland kann heute verlässliche oder gar überprüfbare Aussagen darüber machen, ob das, was man tat oder tut, richtig ist. Versprechen Vorbereitungsklassen, ein direkter Start unter Muttersprachlern oder eine Mischform langfristig den größten Erfolg? Keiner weiß es. Wie häufig gelingt Flüchtlingskindern der Sprung von der Grundschule aufs Gymnasium? Völlig unklar. Wie viele Lehrerinnen und Lehrer wurden mittlerweile dafür qualifiziert, Nichtmuttersprachler vernünftig zu unterrichten? Hat niemand gezählt."

Es ist geradezu bizarr, welches schwarze Loch des Nichtwissens sich dem Autor auftut

Es ist geradezu bizarr, wie groß das schwarze Loch des Nichtwissens ist, auf das Anant Agarwala im Zuge seiner Recherchen stieß. Der Hamburger Bildungsjournalist und Zeit-Redakteur wollte wissen, ob beziehungsweise inwieweit das Integrationsexperiment, das die deutschen Schulen 2015 quasi aus dem Stand beginnen mussten, gelungen ist. Fünf Jahre nachdem 300 000 geflüchtete Kinder und Jugendliche Deutschland und damit ja auch die hiesigen Schulen erreichten, fünf Jahre nach Merkels "Wir schaffen das" fragt Agarwala: Welche Modelle funktionieren mittlerweile? Was ist aus welchem Grund gescheitert? Und wie viele Jugendliche haben überhaupt welche Abschlüsse geschafft? Ist es besser, geflüchtete Kinder wie in NRW mit rudimentären Deutschkenntnissen integrativ zu beschulen, indem man sie - mit zusätzlicher Deutschförderung - auf normale Klassen verteilt? Sollte man es lieber machen wie Berlin, wo die Kinder in Vorbereitungsklassen segregiert werden, bevor sie in den Regelschulbetrieb übergehen? Oder sieht der Königsweg noch mal ganz anders aus? Da müsste doch schon aus volkswirtschaftlichem Interesse nach fünf Jahren mal jemand draufschauen. Ist aber nie geschehen. Das Land braucht dringend gut ausgebildete Fachkräfte, scheint aber alle Integrationsarbeit einfach nach unten zu delegieren, immer weiter runter, bis halt jeder in seinem kleinen Lehrerzimmer vor sich hinwurstelt und schaut, wie er mit der jeweiligen Überforderungssituation klarkommt.

Agarwala hat also eine Art erste Vermessung unternommen und mischt dabei erhellend Reportage mit Analyse, Schulbesuchsempirie mit Expertenmeinung. Er ist selbst immer wieder überrascht, dass er da mitten in Deutschland in völlig unkartiertem Gelände unterwegs ist. Er spricht von "ersten Befunden", "Annäherungen" oder, fast schon wieder witzig, von "systematischem Unwissen" und der "Datenallergie der Bundesländer", die es so schwer macht, allgemeingültige Aussagen zu treffen. Seine eigenen stichprobenartigen Besuche an Schulen pumpt er im Gegenzug nie zu allgemeingültigen Erfahrungen auf, sondern spricht von "punktueller und anekdotischer Evidenz". Umso erstaunlicher ist, wie viel er dann eben doch zutage fördert.

In der Mitte seines Büchleins zitiert Anant Agarwala den Berliner Schulforscher Hans Anand Pant zu der Frage, welche Faktoren besonders dazu beitragen, geflüchtete Schülerinnen und Schüler in den Schulalltag zu integrieren: "Rasche Teilnahme in Regelstunden. Durchgehende sprachliche Bildung, und zwar in allen Fächern. Multiprofessionelle Teams im Unterricht, etwa aus Fach- und DaZ-Lehrkräften (Deutsch als Zweitsprache, Anm. d. Red.). Und eine Kultur, die Vielfalt nicht als Problem sieht, sondern wertschätzt."

Drei dieser vier Forderungen haben mit der Tatsache zu tun, dass eine geglückte schulische Integration unmittelbar verknüpft ist mit der Beherrschung der deutschen Sprache. Wie kann es da sein, dass das Bundesland Nordrhein-Westfalen, in dem zwischen 2015 und 2017 mehr als 55 000 Kinder und Jugendliche einen Asylantrag gestellt haben, im selben Zeitraum nur 961 DaZ-Fachkräfte eingestellt hat? Warum gibt es, anders als in Schleswig-Holstein und Hamburg, in den meisten Bundesländern keine Beschulung in den Erstaufnahmelagern, wenn man doch weiß, dass die Kinder, je jünger sie sind, desto schneller die neue Sprache lernen?

Aber kann man aus dem letzten Punkt automatisch ableiten, dass in den Grundschulen alles okay ist, weil es ja bei den Kleinen von ganz alleine läuft? Agarwala besucht eine Grundschule südlich von Freiburg, die geleitet wird von einem beeindruckend kernigen Sozialdemokraten, der im Durchschnitt 28 Kinder in einer Klasse sitzen hat. Die einen kommen aus einer Arztfamilie, die anderen "haben in ihrem Heimatland nie eine Schule von innen gesehen", wie der Direktor ausführt, "und tragen schon ein Problem-Päckchen auf dem Rücken, bevor das Leben überhaupt richtig losgeht. Wie sollen wir all diesen Bedürfnissen gerecht werden." Agarwala nimmt ein paar Tage am Unterricht teil, und es ist in jeder Stunde zu spüren, wie es die Lehrerinnen und Lehrer zerreibt, weil sie selber sehen, dass sie nie auch nur ansatzweise den Bedürfnissen aller Schülerinnen und Schülern nachkommen können. Und weil sie wissen, dass Migrantenkinder, wenn sie nicht kompetent gefördert werden, sprachliche Rückstände nicht aufholen, sondern mit jedem Schuljahr weiter zurückfallen. Der Betreuungsschlüssel müsste halbiert werden, es fehlt an qualifiziertem DaZ-Unterricht, und die Lehrerinnen und Lehrer, die diese Lücke zu füllen versuchen, sind im autodidaktischen Blindflug unterwegs und sagen von sich selbst, sie bräuchten dringend Fortbildung.

Fortbildungen, gerechte Verteilung, Förderstunden: Klingt selbstverständlich, ist es aber nicht

Nun wäre es ein Leichtes, mit dem dicken Pinsel schwarze Farbe zu verkleistern. Die zweite Stärke dieses Buches ist aber Agarwalas moderater Ton. Er benennt Probleme, ohne in Panik oder Lamento zu verfallen. Oder wie er selbst einmal eine "vorsichtige Lagebeschreibung" zusammenfasst: "Gut geht anders, aber es könnte weitaus schlimmer sein." Was leider kaum je an der Politik, sondern meist an den großartigen Schulen, Direktorinnen, Lehrern liegt, die er auf seiner Expeditionsreise durch das deutsche Bildungslabyrinth trifft. Am eindrücklichsten ist der Besuch an einer Chemnitzer Oberschule, in der sich das ganze Kollegium vom Sportlehrer bis zur Biologiereferendarin das Problem der sprachlichen Bildung zur Kernaufgabe gemacht hat, in der es aber auch gelang, ein weit über den eigentlichen Lehrkörper hinausreichendes Mitarbeiternetz mit unterschiedlichen Kompetenzen auf die Beine zu stellen, das dann in Teamstärke in den Klassenzimmern auftaucht.

Die Kultusministerkonferenz bezeichnete übrigens 2019 "die Entwicklung länderübergreifender Standards als Referenzrahmen für die sprachliche Bildung" als "wünschenswert". Agarwala ist im Grunde genau diesem Wunsch nachgekommen. Am Ende seiner Reise stellt er einige Forderungen, die so plausibel wie dringlich wirken. Zum einen bräuchte es länderübergreifende Integrationsstandards, die verbindliche Antwort gäben auf die drängendsten Fragen: Wie funktioniert der Übertritt von Förder- in Regelklassen am besten? Wie viele Förderstunden für welche Altersstufe? Und wie kann man Lehrerinnen und Lehrer kontinuierlich fortbilden? Ansonsten: Eine sofort greifende Schulpflicht. Eine gerechtere Verteilung der Kinder statt ihre kollektive Verräumung in ohnehin abgehängte Mittelschulen an den Stadträndern. Mehr und fairer verteiltes Geld. Klingt eigentlich alles nach selbstverständlichem Mindestprogramm. Und ist in diesem Land doch eher Utopie.

Anant Agarwala: Das Integrationsexperiment. Flüchtlinge an der Schule - Bilanz nach fünf Jahren. Duden Verlag, Berlin 2020. 127 Seiten 15,50 Euro.

Zur SZ-Startseite

SZ PlusStudieren in Deutschland
:Arbeiterkind

Maximilian Winter ist der erste in seiner Familie, der studiert. Ob ein junger Mensch zur Universität geht, hängt bis heute sehr vom Elternhaus ab - und nicht von den Fähigkeiten. Unterwegs mit einem, der sich durchgeboxt hat.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: