Integration:Sex vor der Ehe? "Total eklig!"

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Im Klassenzimmer treffen Kulturen und Glaubensrichtungen aufeinander. (Foto: Imago Stock&People)

Welche Werte haben Schüler aus Neukölln? Sie wollen Sex nur in der Ehe und später vielleicht Polizist werden, verrät ein Besuch im Bildungsprogramm "Dialog macht Schule".

Reportage von Hannah Beitzer, Berlin

Canan ist 22 Jahre und schwanger von ihrem Freund, einem Engländer. Wie sagt sie, die Enkelin türkischer Gastarbeiter, das bloß ihrer Familie? Darum und um vieles mehr geht es in dem Film "Almanya - Willkommen in Deutschland". "Wie findet Ihr das, wenn jemand Sex hat und nicht verheiratet ist?", fragt Anastasija, nachdem sie den Film Schülerinnen und Schüler einer neunten Klasse der Otto-Hahn-Schule in Berlin-Neukölln gezeigt hat. Die Jugendlichen sollen sich entlang einer Linie aufstellen: von links für "völlig okay" bis rechts: "geht gar nicht".

Schnell bilden die Schüler ein Knäuel, ganz weit rechts. Nur der 14-jährige Hakan traut sich in die Mitte. Er erklärt: "In unserer Religion ist es verboten. Ich würde, wenn ich ein Mädchen liebe, ihre Eltern fragen, ob ich sie heiraten darf. In anderen Religionen ist das aber anders, deswegen stehe ich eher in der Mitte." Von rechts ruft Wafaa, ein Mädchen mit wilden schwarzen Locken: "Ich finde es total eklig!" Anastasija wendet sich ihr zu: "Warum?", fragt sie. "Na, es geht dabei um meine Ehre, was sollten meine Brüder von mir denken?", sagt Wafaa.

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Um solche Themen drehen sich die Gespräche häufig, wenn Anastasija Unterricht in der Otto-Hahn-Schule gibt. Die 28-jährige Amerikanistik-Studentin ist Dialogmoderatorin des Bildungsprogramms "Dialog macht Schule". Studenten wie sie sprechen wöchentlich in Zweierteams mit Schülern aus sogenannten Problemvierteln über Politik, Werte, Religion. Viele Schüler haben Migrationshintergrund und sind wie die neunte Klasse aus Neukölln gerade in einer Phase, in der sie sich fragen: Wer bin ich? Deutscher, Türke, Libanesin, Palästinenserin? Was will ich werden, wie will ich leben?

Kann man Werte beibringen?

Interessant ist der Blick in so eine Schulstunde gerade in diesen Monaten. Berlin-Neukölln und die Leute, die dort leben, müssen in Zeiten steigender Flüchtlingszahlen häufig herhalten für die Argumentation: Menschen mit einer fremden Kultur, Muslime auch noch - die können gar nicht hier leben, ohne dass es Probleme gibt. In vielen Bundesländern gibt es inzwischen Kurse, die muslimischen Flüchtlingen deutsche Werte und Normen beibringen sollen. Aber was sind überhaupt "deutsche Werte" - und kann man jemandem Werte beibringen?

Der Dialogunterricht von Anastasija und dem Lehramts-Studenten Philipp bietet ein paar erhellende Einblicke. "Ich brauche den Schülerinnen und Schülern nicht zu sagen, wie es in Deutschland ist. Die wissen das, sie sind ja selber Deutsche", sagt Anastasija nach der Schulstunde bei einem Glas Tee. Es stimmt, die Jugendlichen sind Deutsche - aber auch Türken, Libanesen, Inder. Anastasija kennt dieses Gefühl einer "hybriden Identität", wie sie es nennt. Sie ist in Leningrad geboren, kam als Kind nach Deutschland und spricht hier mit ihren Eltern Russisch. Sie sieht den Einfluss unterschiedlicher Kulturen als Bereicherung. Genau das will sie den Schülern vermitteln - auch wenn es manchmal Schwierigkeiten gibt.

"Als ich in Wafaas Alter war, habe ich über Sex vor der Ehe genauso gedacht wie sie", sagt die Studentin. "Das hat sich erst geändert, als ich mit Anfang 20 meinen ersten Freund hatte. Es war ein schwieriger Prozess für mich." Sie weiß daher auch, dass es falsch wäre, jemandem wie Wafaa zu sagen: Was du denkst, ist Quatsch. Oder: Das passt nicht nach Deutschland. Ihr geht es um etwas anderes: "Gerade die Mädchen stehen unter unglaublichem Druck, keine Schlampe zu sein. Wir wollen ihnen zeigen, dass es viele verschiedene Lebensstile gibt." In die Klasse, die sie gemeinsam mit Philipp betreut, hat sie auch Bilder der Filmemacherinnen Yasemin und Nesrin Şamdereli mitgebracht, die mit "Almanya" großen Erfolg feierten. "So sehen die Jugendlichen, dass auch deutsch-türkische Frauen Filme machen können."

Gegründet haben "Dialog macht Schule" Siamak Ahmadi, 34, und Hassan Asfour, 33, nachdem sie 2011 in einem ähnlichen Modellprojekt der Bundeszentrale für politische Bildung und der Robert-Bosch-Stiftung mitgearbeitet hatten. Ihr Programm wird vom Bundesfamilienministerium gefördert.

Die beiden Geschäftsführer und ihr Team bilden pro Jahr etwa 100 Frauen und Männer zu ehrenamtlichen Dialogmoderatoren aus, die meisten von ihnen Studierende, viele selbst mit Migrationshintergrund. In den Schulen, die sie besuchen, treffen viele Kulturen aufeinander, überdurchschnittlich viele Kinder leben mit ihren Familien von Hartz IV.

Die Gründer von "Dialog macht Schule": Siamak Ahmadi (re.) und Hassan Asfour (Foto: Dialog macht Schule)

"Ein Problem in den Schulen ist, dass der sehr heterogenen Schülerschaft eine sehr homogene Lehrerschaft gegenübersteht - mit völlig unterschiedlichen Lebensumständen und kulturellen Prägungen", sagt Ahmadi. "Dialog macht Schule" versteht sich als Akteur, der zwischen diesen Welten vermittelt. Die Themen, die sie mit den Klassen behandeln, sind nicht fest vorgegeben, es gibt keinen Lehrplan. Stattdessen werden Themen gefunden, die die Schüler beschäftigen.

Was Schüler über Sex, Berufswahl und Identität denken

Um Sex geht es häufig, es ist ein Thema, das Jugendliche in dem Alter bewegt - ganz egal, welche kulturelle Prägung sie haben. Auch die Berufswahl spielt eine Rolle. Und immer wieder die eigene Identität. "Natürlich geht es uns in den Gesprächen darum, uns mit den Schülern über bestimmte Werte zu verständigen", erklärt Ahmadi weiter, "wir würden aber nie in eine Klasse gehen und gleich sagen: Das ist richtig und das ist falsch."

Anastasija und Philipp lassen die neunte Klasse der Otto-Hahn-Schule erst einmal einfach reden. Nach einer Weile sagt Wafaa: "Sex vor der Ehe geht eben gegen meine Religion. Ich finde es aber auch nicht schlimm, wenn jemand mit einer anderen Religion es anders macht." Sie denkt kurz nach und sagt plötzlich: "Wahrscheinlich würden es die meisten von uns auch machen, wenn sie eine andere Religion hätten." Die Klasse johlt, redet aufgeregt durcheinander, Wafaa bleibt aber standhaft.

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Anastasija lächelt darüber, sie ist zufrieden mit der Diskussion. "Für mich ist es das Ziel dieser Stunden, den Jugendlichen andere Lebensstile erst einmal vorzustellen - und dass bei ihnen Denkprozesse einsetzen", sagt sie später. All das konnte sie bei Wafaa beobachten, bei Hakan ebenso. Die Schüler und Schülerinnen aus Neukölln seien insgesamt schon sehr reif und reflektiert, sagt sie.

Natürlich gibt es für die Dialogmoderatoren nicht nur einfache Situationen. Philipp berichtet von einem Erlebnis mit einem Schüler auf einem Ausflug: "Als wir mit der U-Bahn in der Stadt unterwegs waren, hat er lautstark das Aussehen einer Frau im Waggon kommentiert: Die ist dick, die ist hässlich." Philipp nahm ihn zur Seite und sagte: "Es kann ja sein, dass dir ihr Aussehen nicht gefällt - aber eine Frau ist nicht dafür da, deinen optischen Ansprüchen zu genügen und schon gar nicht muss sie sich deine Kommentare anhören." In solchen Fragen sind die Dialogmoderatoren auch einmal streng. "Respekt vor anderen ist ein Wert, der für uns nicht verhandelbar ist", sagt Philipp.

Auch in der Klasse der Otto-Hahn-Schule gibt es nicht nur Musterschüler. Da ist zum Beispiel Fadi, der schon häufiger Probleme mit den Lehrern und der Polizei hatte. Als die Klasse sich an diesem Tag während des Dialogunterrichts über einen Schulausflug in das Erlebnisbad "Tropical Island" südöstlich von Berlin freut, sitzt er still daneben. "Er darf nicht mit", erklärt Nura den Dialogmoderatoren. Nura, die Einzige in der Klasse, die ein Kopftuch trägt, ist in den meisten Stunden die Wortführerin der Gruppe, tritt selbstbewusst und redegewandt auf. Warum, fragen die Moderatoren. "Wir anderen wollten das nicht. Weil klar war, dass er irgendeine Aktion bringen würde", sagt Nura. Fadi widerspricht nicht.

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Ist er also so einer, der nur Mist baut, den man abschreiben kann? Auf den ersten Blick passt der Junge ins Klischee: die Haltung, die Klamotten, die Sprache - Gangster-Style. Aber Fadi ist auch neugierig, zugewandt, freundlich. Zur Begrüßung und zum Abschied gibt er Anastasija und Philipp stets die Hand. "Soll ich meine Jacke offen lassen oder zumachen, was sieht besser aus?", fragt er Anastasija. "Wie wird man eigentlich Journalist?", möchte er vom Besuch wissen, "wie lange muss man da studieren, ist das schwer?"

Der Neuköllner will Polizist werden

Als er nach seinem Berufswunsch gefragt wird, sagt er erst: "Fußballer. Oder Box-Weltmeister." Nach ein paar Minuten kommt aber noch mehr: "Eigentlich wollte ich immer zum SEK, zum Sondereinsatzkommando bei der Polizei. Aber ich weiß nicht, ob das jetzt noch klappt, weil ich ja so viel Ärger gemacht habe." Er schaut zu Boden, dann wieder hoch und sagt: "Aber ich glaube, ich habe jetzt ganz gut die Kurve gekriegt." Anastasija lächelt ihn an, unterhält sich noch nach der Stunde lang mit ihm. Auch Fadi lächelt und fragt im Rausgehen: "Was machen wir denn nächste Stunde?"

Ob der Problemschüler tatsächlich die Kurve kriegt, wird sich zeigen. "Wir vollbringen hier keine Wunder", sagt Philipp und lacht. Doch ein wesentlicher Eindruck bleibt hängen: Fadi will gemocht werden von Anastasija und Philipp, die mit ihm jeden Montag in der Schule über Sex, Religion, Berufe und vieles andere sprechen. Dieser Eindruck widerspricht dem typischen Klischee des Neuköllner Jugendgangsters. Denn der hätte für die Schule und alle, die damit zu tun haben, nur Verachtung übrig - genau wie für die Polizei und den deutschen Staat, dem sie dient.

Zum Schutz der Privatsphäre sind die Namen der Kinder geändert.

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