Süddeutsche Zeitung

Integration:"Es fehlt oft das Interesse am Schüler als Menschen"

Jörg Knüfkens Schüler galten als unbeschulbar. Dann schenkte er jedem ein Tagebuch. Ein Gespräch über sein Projekt "Change Writers". Mit einer Auswahl bemerkenswerter Einträge.

Interview von Daniela Gassmann

Süddeutsche Zeitung Familie: Wie kamen Sie auf die Idee, Schüler Tagebuch schreiben zu lassen?

Jörg Knüfkens: Das war vor acht Jahren. An meiner Hauptschule gab es zehn unbeschulbare Schüler. Sie haben ständig gestört. Also haben wir sie alle in eine Nachmittags-AG gesteckt, die hieß "Team Zukunft", war aber eigentlich ein hoffnungsloser Fall. In der ersten Stunde konnte ich nicht mal sagen, was für ein Kooperationsspiel ich geplant habe, die haben sich in Sprachen angeschrien, die ich nicht verstehe. Also dachte ich: Dann schauen sie halt nur noch Filme. Und habe "Freedom Writers" gezeigt.

Eine wahre Geschichte von 1994: Eine Lehrerin kommt an eine Highschool in Kalifornien. Die Schüler sind ethnisch verfeindet, manche haben im Unterricht sogar Schusswaffen dabei. Als die Lehrerin sie Tagebuch schreiben lässt, nähern sie sich an. Am Ende schaffen alle ihren Abschluss und studieren.

Als ich den Film gezeigt habe, war es so ruhig, ich konnte es kaum glauben. In der nächsten Stunde habe ich jedem Schüler feierlich ein Tagebuch überreicht, die Zehn-Euro-Variante mit Einband. Ich habe nur eine Regel mitgegeben: Sie sollen jede Woche in der AG schreiben.

Und das haben sie angenommen?

Sie haben direkt losgelegt. Alle wollten, dass ich ihre Tagebücher im Büroschrank aufbewahre, weil ihr Zuhause kein sicherer Ort dafür ist. Bei uns ist dann nicht Hollywood passiert, klar. Aber die Schüler haben gemerkt, dass sie alle ähnliche Probleme haben - und dass sie mir nicht egal sind.

Wie gingen Sie mit den verschiedenen Muttersprachen um?

Ich habe keine Vorgabe gemacht, trotzdem haben alle auf Deutsch geschrieben. Schreiben war für die Schüler bisher etwas Negatives, es hat ihre Fehlerhaftigkeit gespiegelt. Im Tagebuch wurde nichts benotet und nichts verbessert. Auch beim Thema waren sie komplett frei. Wer wollte, konnte sich etwas aus einem Ideenpool he­raussuchen, zum Beispiel: "Was war dein schlimmstes Erlebnis?", "Schreibe über deine Träume und Wünsche!"

Mancher gab sein Innerstes preis, ein Junge schrieb über seinen Vater: "Er hat mich geschlagen (...) bis ich bewusstlos war. Ich heulte jeden Abend, weil ich Angst hatte." Hat Sie das nicht überfordert?

Ich bin ausgebildeter Sozialarbeiter, ich kann damit umgehen. Einem Mädchen habe ich zusammen mit ihrem Klassenlehrer geholfen, aus ihrer Familie auszubrechen, die mit Drogen dealte. Erst hat sie ein neues Zuhause gefunden, dann eine Ausbildung und eine Therapie begonnen.

Was ist aus den ersten Tagebuchschreibern heute geworden?

Bis auf einen haben alle ihren Abschluss und eine Ausbildung. Eine ehemalige Schülerin hat ihr Abi nachgeholt und will jetzt Jura studieren.

Inzwischen haben Sie den Verein ­"ChangeWriters" gegründet: In Workshops lernen Lehrer aus ganz Deutschland das Tagebuchkonzept und andere Methoden zum Beziehungsaufbau. Was erhoffen Sie sich?

Schulen konzentrieren sich fast nur auf Leistung. Durch das dreigliedrige System können sie Schüler abgeben, wenn sie nicht funktionieren. Eine Jugendliche wurde vom Gymnasium bis zu mir an die Hauptschule abgeschult. Ich ha­be sie gefragt, was sie gebraucht hätte. Ihre Antwort: "Dass mich einmal jemand fragt: Wie geht's dir?" Bei all dem Stress, den Lehrer haben - das wäre machbar gewesen. Es fehlt oft das Interesse am Schüler als Mensch.

Wie sähe also eine bessere Schule aus?

Sie hätte eine wertschätzende Beziehungskultur von der Hauptschule bis zum Gymnasium. Sie würde die Schüler in den Mittelpunkt stellen, mit ihren Anliegen und Schwierigkeiten. Die Schüler sollen sich nicht aufs System einstellen müssen, sondern das System auf sie. Das wäre traumhaft.

Wie kann man das erreichen?

Mein Verein versucht bei Lehrern mehr Empathie zu entwickeln. Das Tagebuch ist dabei nur eine von vielen möglichen Methoden, daneben gibt es zum Beispiel Kooperationsübungen. Es soll ein großes Netzwerk von Menschen entstehen, die mit ihrer wertschätzenden Haltung in die Schulen hineinwirken.

Welchen Beitrag können Länder und Schulen leisten?

Die Fortbildungskultur an Schulen ist miserabel: Der Fortbildungsetat ist extrem gering, die Lehrer kommen kaum mal ein paar Tage aus dem Stundenplan raus. Das gibt's in keiner Wirtschaftsbranche - das muss sich unbedingt ändern.

Geht es nicht auch mit Eigeninitiative, so wie bei Ihnen?

Klar, ich habe auch mal Tagebücher aus eigener Tasche besorgt oder mit den Schülern Waffeln verkauft. Aber am Ende glaube ich, dass es nur gemeinsam geht. Man muss sich vernetzen. Nur so kann man wirklich etwas verändern.

Jörg Knüfkens ist Sozialpädagoge und arbeitete lange an Hauptschulen. 2014 gründete er den Verein ChangeWriters, um sein Tagebuchkonzept weiterzuentwickeln. Gemeinsam mit seinen Schülern hat er das Buch "Das Wunder bleibt aus" geschrieben. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Care Line veröffentlichen wir hier einige Beiträge daraus:

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