Inklusion in Schweden:Jeder Schüler soll mitkommen

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Unterstützt werden die Gemeinden und Städte von der staatlichen Behörde für Sonderpädagogik, Specialpedagogiska skolmyndigheten (SPSM). SPSM-Experte Per Skoglund hat Zahlen für ganz Schweden und seine etwa 900 000 Grundschüler. Demnach gehen 12 000 von ihnen auf Sonderschulen (Särskolan), die nur geistig behinderte Kinder unter einer bestimmten IQ-Grenze aufnehmen. 10 000 weitere sitzen in normalen Grundschulen - allerdings in Sondergruppen, schätzt Skoglund. Wenn diese Kinder am normalen Unterricht teilnehmen, komme es darauf an, dass sie nicht nur "integriert", also in die Klasse gesetzt, werden. Sie müssten "gesehen, verstanden, unterrichtet und unterstützt" werden, sagt Skoglund. Das funktioniere mal besser und mal schlechter.

Wie es an der Johan Skytteskolan funktioniert, erklärt Vize-Direktorin Monika Strandberg, die das Projekt Inklusion koordiniert. Sie schickt oft zwei Lehrer gleichzeitig in eine Klasse - den Lehrer für das Unterrichtsfach und einen der fünf Sonderpädagogen der Schule, der seine Schützlinge sonst in einer Sondergruppe außerhalb des normalen Unterrichts betreuen würde. Diese getrennten Gruppen gibt es zwar auch noch, sie sollen aber so selten wie möglich stattfinden.

Stattdessen achten nun alle Lehrer stärker darauf, dass jeder Schüler mitkommt. Um das zu erreichen, geben sie ihnen Informationen immer auf mehreren Wegen. Einen Text beispielsweise lesen sie vor, bevor sie ihn austeilen, das hilft den Leseschwachen. Wenn sie etwas erklären, schreiben sie die wichtigsten Vokabeln an die Tafel oder arbeiten mit Bildern.

Handicaps und Hemmnisse

Zur Inklusion, dem gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Handicap, hat sich Deutschland per UN-Behindertenrechtskonvention grundsätzlich verpflichtet. Seit Jahren wird sie schrittweise umgesetzt: Gut jeder vierte Schüler mit Förderbedarf (Lernstörungen, Defizite in der sozialen Entwicklung, Behinderungen) besucht nun eine Regelschule statt einer Förderschule. Mit einer Durchsetzung der Inklusion würden Förderschulen allenfalls vereinzelt fortbestehen.

Doch es gibt Hemmnisse: Einerseits sind manche Eltern verunsichert, ob ihre Kinder in einer Förderschule nicht doch besser aufgehoben sind. Gleichwohl schaffen dort viele Schüler nicht mal den Hauptschulabschluss. Andererseits gibt es unter Eltern nicht-behinderter Schüler teils die Furcht, dass die neuen Klassenkameraden das Niveau drücken. In einer Emnid-Umfrage sprachen sich Eltern klar für die Inklusion körperlich Behinderter aus; dass Kinder mit Verhaltensstörungen reguläre Klassen besuchen, wollen nur 46 Prozent. Drittens zögert die Politik, auch aus Kostengründen: Inklusiver Unterricht muss auf variierende Lerntempos eingehen, was Investitionen und neue Konzepte verlangt. Strittig ist die Frage, inwiefern Leistungskriterien im Zuge der Inklusion aufgeweicht werden. Saarlands Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) warnte davor, Inklusion "mit der Brechstange" zu betreiben. "Das Gymnasium soll als Schulform zum Abitur führen. Daran bemisst sich die Frage des Zugangs. Und zwar für alle - egal, ob behindert oder nicht behindert." Zuletzt wurde mit diesem Fokus über einen Jungen mit Down-Syndrom aus Baden-Württemberg debattiert. Johann Osel

Fühlen sich leistungsstarke Schüler bei so viel Betreuung nicht unterfordert? Strandberg glaubt das nicht, sie hält die Zusammenarbeit mit lernschwächeren Schülern für eine gute Erfahrung. "Die Menschen in der Gesellschaft sind unterschiedlich. Wir zeigen unseren Schülern, wie die Gesellschaft ist." Sie haben offenbar Erfolg damit: Nahezu alle an der Schule schließen so gut ab, dass sie danach drei Jahre aufs Gymnasium gehen können. Die größte Herausforderung sind autistische Schüler. Auch hier ist jedes Kind anders. Manche müssen später anfangen, weil ihr Tagesablauf anders ist als der ihrer Klassenkameraden. Manche möchten in den Pausen nicht auf den Schulhof gehen. Auf Ausflüge und Projektwochen müssen autistische Schüler besonders gut vorbereitet werden. Sie mögen es meist nicht, wenn etwas von ihrer Routine abweicht.

Einem autistischen Jungen in der neunten Klasse ist das an diesem Tag passiert. Albert hat normalerweise Begleitung zum Mittagessen, doch die ist heute nicht gekommen. Also habe er gar nichts gegessen, erzählt die Kunstlehrerin Margareta Kupper besorgt. Sie fürchtet, dass es im Unterricht nun schwierig wird mit ihm. Doch Albert wartet friedlich mit den anderen vor dem Kunstraum, kommt mit dem Klingeln als Erster herein, geht geradewegs auf seinen Platz und legt seine Sachen ordentlich vor sich. Die Lehrerin hat ausgestopfte Vögel auf den Tischen verteilt, die Kinder sollen sie malen - aber nicht anfassen. Kupper erklärt alles langsam und ausführlich, sagt vieles zweimal. Albert hört ruhig zu.

Wenn man Schmidhuber fragt, was sie noch verbessern möchte, spricht sie von einer langen Reise, die wohl niemals ende. "Früher hat man zu viel Angst gehabt vor diesen Kindern und sich nur darauf konzentriert, dass sie sich wohlfühlen, irgendwie dabei sind", sagt sie. Der nächste Schritt sei, sie zu fordern. "Sie müssen auch etwas lernen, es aufs Gymnasium schaffen, einen Beruf ergreifen", sagt sie. Eben genau wie alle anderen.

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