Inklusion an Hochschulen:Wo ist der nächste Aufzug?

Behindertenplätze an der LMU in München

Für Rollstuhlfahrer gibt es in vielen Hörsälen kaum geeignete Plätze.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Mehr als jeder zehnte Studierende hat eine Beeinträchtigung. Wie gehen die Unis damit um? Eine querschnittsgelähmte Jura-Studentin erzählt.

Von Matthias Kohlmaier

Sollen die Förderschulen erhalten bleiben? Oder doch alle Kinder und Jugendlichen mit Beeinträchtigung in die Regelklassen integriert werden? Und wenn ja, bräuchte es dafür nicht mindestens zwei Lehrkräfte pro Klasse? Fragen über Fragen, die seit Jahren wortreich diskutiert werden - jedenfalls im schulischen Bereich. An den Unis ist das Thema kaum präsent, und eine "Förderuni" hat auch noch niemand allen Ernstes gefordert.

Wie steht es also um die hochschulische Inklusion? Mit dieser Frage hat sich kürzlich das Deutsche Studentenwerk in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) in einer großangelegten Umfrage beschäftigt. Teilgenommen haben etwa 21 000 Studierende von 153 Hochschulen. Die wichtigsten Ergebnisse:

  • Etwa elf Prozent der Studierenden haben eine Behinderung oder eine chronische Erkrankung.
  • 90 Prozent der Betroffenen geben an, dass sie beeinträchtigungsbedingte Schwierigkeiten im Studium haben, insbesondere durch die hohe Prüfungsdichte oder durch Anwesenheits- und Zeitvorgaben.
  • Nachteilsausgleiche - etwa Zeitaufschläge bei Klausuren - werden von drei Viertel der Nutzerinnen und Nutzer als hilfreich bewertet, aber nur 29 Prozent der Studierenden haben zumindest einmal einen Nachteilsausgleich beantragt.
  • Besonders wichtig ist für die Betroffenen eine bedarfsgerechte Unterstützung zu Beginn des Studiums.
  • Mehr als die Hälfte der beeinträchtigten Studierenden (53 Prozent) hat eine psychische Erkrankung.

Hinter diesen Zahlen verstecken sich natürlich zahlreiche sehr individuelle Schicksale, zum Beispiel das der Studentin Amelie Ebner. Sie ist seit einem Skiunfall im Jahr 2013 vom sechsten Halswirbel abwärts gelähmt und auf den Rollstuhl angewiesen. Trotzdem studiert sie an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität erfolgreich im dritten Semester Jura. (Einen ausführlichen Text über Amelie Ebners Weg zum Abitur lesen Sie hier.)

Und wie läuft es nun mit der Inklusion an der Uni? "Ich will mich nicht beschweren", sagt Ebner. In puncto Logistik funktioniere vieles sehr gut, ein paar Probleme müsse man bei so einem alten Bau wie der LMU eben in Kauf nehmen. "Vor jeder Veranstaltung prüfe ich im Raumplan, ob ich denn überhaupt teilnehmen könnte. Im Zweifel muss ich zum Beispiel eine AG zu einer weniger angenehmen Uhrzeit wählen, weil die, die gut in meinen Tagesplan passen würde, in einem für mich nicht zugänglichen Raum stattfindet." Auch die zehn Stufen zur Strafrechtsbibliothek machten der Studentin zu Beginn Sorgen. Mittlerweile weiß sie aber, dass es auch einen per Rollstuhl erreichbaren Hintereingang gibt. Viele Wege führen eben zum Buch. In Ebners Fall sind es oft Umwege, aber dank ständiger Unterstützung durch einen Studienbegleiter sind die meist zu schaffen.

Das zentrale Problem für Rollstuhlfahrer ist aber ohnehin nicht die Suche nach dem nächsten Aufzug - es beginnt im Hörsaal. "Beim Blick in die meisten Vorlesungsräume könnte man meinen: Anscheinend wollen Rollstuhlfahrer nur in die Uni, um sich mal umzusehen; aber selbst studieren wollen sie dann doch nicht", sagt Amelie Ebner. Was sie meint: Plätze für Rollstuhlfahrer sind meist vor der ersten Stuhlreihe vorgesehen. "Dort ist zwar Platz für den Rollstuhl, aber ich habe leider keine Bank als Schreibunterlage und finde es auch unangenehm, dort vorne ständig auf dem Präsentierteller sitzen zu müssen." Ebner stellt sich daher lieber seitlich an eine andere Bankreihe. Dort muss sie sich zwar im 90-Grad-Winkel Richtung Dozent drehen, kann aber immerhin einen Klapptisch nutzen.

So wird der Nachteilsausgleich festgelegt

Um derlei Probleme zu beheben oder wenigsten abzumildern, gibt es an der LMU eine eigene Beratungsstelle innerhalb der zentralen Studienberatung. Gabriele Wimböck ist dort stellvertrende Beauftragte für Studierende mit Behinderung und chronischer Erkrankung. Sie kennt die Probleme, die das Haus mit sich bringt: "Das Hauptgebäude der LMU ist ein historischer und denkmalgeschützter Bau, das macht den barrierefreien Zugang teilweise etwas kompliziert. Wir arbeiten aber daran, dass möglichst Menschen mit jedweder Einschränkung hier ein Studium aufnehmen können."

Aber, und da sind sich Rollstuhlfahrerin und Behindertenbeauftragte einig, die LMU leistet in Sachen in Inklusion auch viel Gutes. Mit Betroffenen mit körperlichen Einschränkungen etwa geht eine Hilfskraft vor Studienbeginn sämtliche Wege ab und prüft die Aufzüge; auch für blinde Studierende ist diese Ortsbegehung extrem wichtig. Darüber hinaus wird bei der Wahl der Hörsäle versucht, Rücksicht auf Studierende mit Behinderung zu nehmen, soweit es die baulichen Voraussetzungen eben hergeben.

Neben dem Weg von A nach B ist der Nachteilsaugleich das wohl wichtigste Thema für Studierende mit Einschränkung. Er soll dafür sorgen, durch Behinderung oder Erkrankung entstandene Nachteile in der Prüfungssituation durch geeignete Maßnahmen auszugleichen - natürlich ohne die Betroffenen gegenüber ihren Kommilitonen zu bevorteilen. Dafür erarbeiten die Studierenden gemeinsam mit der Beratungsstelle einen Vorschlag, den sie dann samt ärztlichen Attesten und Schwerbehindetenausweis bei den Prüfungsämtern einreichen.

Das Ergebnis bei Amelie Ebner: Sie darf ihre Klausuren in einem separaten Raum schreiben und bekommt anderthalb mal so viel Arbeitszeit wie ihre Kommilitonen. Der Zeitaufschlag ist nötig, da sie keine Fingerfunktion hat, also mit einer speziellen Technik nur langsam schreiben kann. "Ich muss mich vor Prüfungen rechtzeitig bei den Lehrstühlen und beim Prüfungsamt melden, damit ein geeigneter Raum organisiert werden kann", sagt Ebner. "Bisher läuft das gut." Dass das nicht für alle Facetten der Inklusion an Unis gilt, zeigt eine Erkenntnis aus der Studie von Studentenwerk und DZHW. Demnach "verzichten viele Studierende auf Nachteilsausgleiche, insbesondere weil sie ihre Rechte nicht kennen, Hemmungen haben oder eine 'Sonderbehandlung' ablehnen".

Umso wichtiger sind die Beratungsstellen an den Hochschulen. Und umso seltsamer ist es, dass die Beratungsstelle der LMU nicht professioneller ausgestattet ist. Gabriele Wimböck arbeitet dort ehrenamtlich neben ihrer Lehr- und Forschungstätigkeit, das Lehrdeputat ihres Chefs wurde gerade einmal um zwei Stunden herabgesetzt; dazu kommen eine Vollzeitberaterin, die aber zusätzlich in der zentralen Studienberatung arbeitet, sowie einige Hilfskräfte. Und das bei mehr als 1000 Anfragen von unterstützungsbedürftigen Studierenden pro Semester.

Auch Jura-Studentin Amelie Ebner war speziell zu Studienbeginn froh um das Beratungsangebot. Mittlerweile kommt sie aber weitgehend alleine zurecht und freut sich auf die Zeit nach dem Studium. Nach einigen Praktika weiß sie: "Gerichtsgebäude sind alle sehr behindertengerecht ausgestattet und gebaut. So gesehen war Jura wohl eine ganz gute Studienwahl."

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Amelie Ebner ist querschnittsgelähmt und bereitet sich auf das Abitur vor. In ihrem Blog beschreibt sie, wie man nicht den Humor verliert.

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