In 60 deutschen Kinos zu starten, das ist für eine No-Budget-Dokumentation eine Sensation. Thomas Binn trifft mit "Ich. Du. Inklusion" einen Nerv: Der Film begleitet vom Tag der Einschulung bis zur Mitte des dritten Schuljahrs eine Grundschulklasse, in der Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam lernen. Damit bereichert er die häufig abstrakte Debatte über die Inklusion um Einblicke in die Realität der Kinder, Lehrer und Eltern.
SZ: Sie haben in Uedem gedreht, einem kleinen Ort in Nordrhein-Westfalen. Wieso gerade da?
Thomas Binn: Ich war ja lange hauptberuflich Sozialpädagoge und habe vor Jahren mit dem Schulleiter ein Projekt für Jungen entwickelt. Es gab also eine Vertrauensbasis. Jede andere Schule hätte eine Langzeitdoku abgelehnt. Und Uedem war gerade richtig: bürgerliche Mitte, relativ heile Welt, engagierte Schule. Wenn die Inklusion da schon nicht funktioniert, wie soll sie dann in Köln-Chorweiler funktionieren?
Woran scheitert die Schule?
An Erfahrung mangelt es ihr nicht, sie war 15 Jahre Projektschule für gemeinsamen Unterricht. Jedem Förderkind wurde ein fester Satz an Sonderpädagogenstunden zugewiesen. Bei sieben Kindern in einer Klasse kam etwa eine volle Stelle heraus, es gab also ein Zweierteam aus Lehrer und Sonderpädagoge. Das änderte sich dramatisch, als 2014 die Inklusion an allen Schulen eingeführt wurde. Der spezielle Stundensatz entfiel, weil es für so viele Kinder gar nicht genug Sonderpädagogen gibt.
Was heißt das für die Klasse im Film?
Von 22 Kindern sind sieben förderbedürftig. Und wie oft kommt die Sonderpädagogin? Sieben Stunden pro Woche. Frau Heß, die Klassenlehrerin, ist meist allein. Da wurde ein erfolgreiches System zerstört.
Ein Mädchen erzählt, dass sie sich oft stundenlang meldet, ohne dranzukommen.
Ja. Dabei ist Frau Heß ein Traum, eine Lehrerin mit Herzblut. Aber sie steht vor einer unlösbaren Aufgabe. Weil der Sparzwang an unseren Schulen dem Bildungsauftrag vorangestellt wird. Das politische System, das die Inklusion verordnet, verhindert zugleich, dass sie umgesetzt wird.
Wie reagiert die Politik auf Ihren Film?
Bei der Premiere in Düsseldorf hat die bildungspolitische Sprecherin der Grünen in NRW gesagt, die Landesregierung habe 1,5 Milliarden Euro in Bildung investiert und alles Menschenmögliche getan. Da hat das Publikum laut protestiert. Die Leute an der Basis wissen, was alles fehlt. In Uedem zum Beispiel musste ein Erstklässler mit einer Hörnervstörung die Schule verlassen, weil sie nicht finanzieren konnte, was er an Geräten, Lehrmaterial und Betreuung gebraucht hätte. Seitdem fährt er täglich ins 35 Kilometer entfernte Wesel. Per Taxi.
Kam auch Positives zur Sprache?
Eine Dame vom Netzwerk "Gemeinsam leben, gemeinsam lernen" erzählte, dass sie vor 25 Jahren unglaublich kämpfen musste, um ihr behindertes Kind in einer Regelschule unterzubringen. Es sei doch ein Riesenfortschritt, dass Eltern jetzt das Grundrecht haben, zwischen Regel- und Förderschule zu wählen. Das stimmt natürlich.
Wie sich die Kinder die Inklusion vorstellen, zeigen Sie im Film auf der Bühne.
Ja, in der "Schule der Tiere". Da ist jeder anders, der Puma kann jagen, aber nicht gut tauchen, das Nashorn trampeln, aber nicht klettern. In der Tierprüfung helfen dann alle allen, und jeder merkt, dass er so stärker ist. Wir haben die Fabel gemeinsam im dritten Schuljahr entwickelt, von der Idee bis zur Aufführung in fünf Tagen. Die Kinder haben sich unglaublich eingebracht.
Was soll Ihr Film bewirken?
Er soll Erwachsene dafür sensibilisieren, was Kinder brauchen. Wenn sie ganztags zur Schule gehen, weil beide Eltern arbeiten, muss die Schule leisten, was die Eltern nicht mehr leisten können. Dann sind Lehrer als Bezugspartner wichtiger denn je. Sie müssen jedes Kind, ob behindert oder nicht, da abholen, wo es steht. Das können sie aber nur, wenn wir genug in Schulen investieren.
Thomas Binn, 47, ist Filmemacher, Fotograf und diplomierter Sozialpädagoge. Seine Tochter und sein Sohn wurden in der Grundschule gemeinsam mit förderbedürftigen Kindern unterrichtet, anschließend wechselten sie aufs Gymnasium.