Ein bisschen Gänsehaut hat er schon. Und ein komisches Gefühl, hierher zurückzukehren. Aber es ist ihm wichtig, dass seine Studenten wissen, wie es aussieht in einer Behindertenwerkstatt. Horst-Alexander Finke, 52, gibt Hochschulseminare und Weiterbildungen zum Thema Inklusion. Eines dieser Seminare heißt: "Meine Lebenswelt". Finke, zerzaustes Haar, braunes Sakko, hat selbst dreißig Jahre lang in einer solchen Werkstatt gearbeitet - als "Behinderter". Dann wollte er raus, etwas anderes machen. An seine Dozentenrolle hat er sich inzwischen gewöhnt. Finke, könnte man sagen, ist Vermittler in einer schwierigen Debatte.
Über Inklusion wird seit Jahren gestritten. Menschen mit Behinderungen sollen bessere Bildungschancen bekommen, Kinder von Anfang an gemeinsam lernen, ob mit oder ohne Handicap. Kritiker rügen, dass das Konzept viele Lehrer überfordere; und Inklusion, zumal schlecht umgesetzt, die Chancen für nichtbehinderte Schüler verschlechtere. Befürworter loben, dass viele Kinder nun nicht mehr vom allgemeinen Schulsystem ausgeschlossen werden.
Was das heißt - ausgeschlossen werden -, weiß Horst-Alexander Finke gut. Weil er zu früh auf die Welt kam und wegen einer fehlgeschlagenen Impfung hat Finke seit seinen ersten Lebensmonaten eine Sehbehinderung und eine Hirnleistungsschwäche. Seine Beeinträchtigungen sieht man nicht, aber sie haben seine Schulzeit nicht einfacher gemacht. Als er in den Siebzigerjahren eine Regelschule besuchte, reagierten die meisten Lehrer mit Unverständnis, einer sogar mit Schlägen. Auch Mitschüler schlugen manchmal zu, wenn sie merkten, dass Finke sich nicht wehrte. Er schaffte seinen Hauptschulabschluss, aber bei der Berufsausbildung setzte man ihn vor die Tür. Angeblich könne man nichts mehr für ihn tun. Also arbeitete Finke drei Jahrzehnte lang in einer Behindertenwerkstatt.
Bis er vor drei Jahren auf einen Aushang aufmerksam wurde, der seinem Leben noch einmal eine neue Richtung gab. Die Kieler Stiftung "Drachensee" suchte Teilnehmer für das Projekt "Inklusive Bildung". Diese sollten unterrichten und bereit sein, die Arbeit in der Werkstatt hinter sich zu lassen. Finke bewarb sich und wurde genommen.
Bislang ist das Projekt international einmalig, die Idee dahinter einfach: Menschen mit Behinderung geben selbst Seminare zum Thema Inklusion. Sie unterrichten angehende Lehrer und Sozialarbeiter und bilden sich dabei selbst weiter zur pädagogischen Fachkraft. Die Dozenten bekommen, wenn alles gut läuft, eine Festanstellung und können von ihrer Lehrtätigkeit leben. Die Studierenden - meist ohne Behinderungen - bekommen schon früh im Studium Kontakt zu behinderten Menschen. Für ihr späteres Berufsleben ist das zunehmend wichtig, da immer mehr Kinder mit Behinderungen in den Schulklassen sitzen.
An diesem Tag besucht die Seminargruppe um Finke die Mürwiker Werkstätten in Flensburg, wo knapp 800 Menschen mit Behinderungen arbeiten. Die Besucher beobachten hier nicht nur, sie arbeiten mit. Das ist ein wichtiges Ziel des Seminars, Theorie und Praxis beim Thema Inklusion zu verbinden. Einen Tag lang verpacken die Studenten also Nugatpralinen, kleben Etiketten auf Rumflaschen oder sortieren Minzbonbons. Anfangs machen sie noch viele Fehler. Das Etikett zu weit links, die Packung zu voll. Geduldig bessern die Angestellten nach.
Die entspannte Atmosphäre beim Arbeiten hat ihnen am besten gefallen, sagen die Studenten später. "Die Dozenten erzählen viel von sich und wir von uns", sagt die Pädagogik-Studentin Catharina Obernauer. Ihre wichtigste Erkenntnis: Die Ziele im Leben sind oft dieselben, nur die Chancen, diese zu erreichen, sind noch lange nicht gleich. Manche Studenten hätten ihm gesagt, dass sie nicht an den Erfolg von Inklusion glauben, erzählt Finke. "Dann reden wir darüber, dass sich natürlich auch das System verbessern muss. Dass zum Beispiel die Klassen kleiner sein müssen und man mehr Zeit braucht, um auf alle einzugehen."
Dass Inklusion aufwendig ist und Geld kostet, zeigt sich auch an dem Projekt "Inklusive Bildung" selbst. Fünf Menschen mit verschiedenen geistigen und körperlichen Behinderungen haben unterschiedliche Bedürfnisse. Zu Beginn der Praxisphase 2014 unterrichten noch alle Teilnehmer gemeinsam und mit einer Assistentin, die sie bei der Vorbereitung unterstützt. Inzwischen halten sie die Seminare zu zweit.
Vertrauen sei wichtig, betont Jan Wulf-Schnabel. Er leitet das Projekt. Die Dozenten sollten sich jederzeit zurückziehen können, wenn sie sich überfordert fühlen. Deshalb halte die Stiftung ihre Werkstattplätze auch für den gesamten Projektzeitraum frei. Ein durchaus kostspieliges Angebot, das von der "Aktion Mensch" unterstützt wird. Nach Ende des Projekts im Herbst müssten die Dozenten in jedem Fall reguläre Jobs an den Hochschulen finden, fordert Schnabel: "Sonst laufen sie Gefahr, nach ein, zwei Jahren an der Universität direkt wieder in die Sozialhilfe durchzurauschen." Der Anspruch auf Behindertenhilfe ist dann erst einmal verloren.
Dutzende Hochschulen wollen das Angebot künftig in ihre Lehrpläne aufnehmen
Es sind also noch längst nicht alle Schwierigkeiten geklärt, die so ein Projekt mit sich bringt. Zum Beispiel darf an einer Hochschule eigentlich nur unterrichten, wer auch einen Hochschulabschluss hat. Den haben die Dozenten natürlich nicht. Offiziell wird das Seminar deshalb von einer Lehrbeauftragten der Fachhochschule durchgeführt. Die Dozenten dürfen auch keine Klausuren oder Hausarbeiten bewerten. Um Punkte zu bekommen, müssen die Studenten eine Klausur in der dazugehörigen Vorlesung schreiben.
Auch Horst-Alexander Finke muss sich für das Projekt immer wieder überwinden. Früher habe man ihm jedes Wort über seine Beeinträchtigung aus der Nase ziehen müssen. Inzwischen hat er gemerkt, wie offen und neugierig die Menschen auf seine Geschichte reagieren. Er sei "schwer beeindruckt", besonders wenn er die angehenden Lehrer von heute mit denen aus seiner Schulzeit vergleiche. "Die Wertschätzung hat sich komplett geändert", auch dank der Debatte um Inklusion.
Inzwischen hat die Stiftung Drachensee ein Institut gegründet, um das Modellprojekt auch im In- und Ausland bekannt zu machen. Laut Projektleiter Schnabel wollen Dutzende Hochschulen das Angebot künftig in ihre Lehrpläne aufnehmen und Dozenten mit Behinderung einstellen. So solle sich auch deren Status verschieben. Die Dozenten spüren das heute schon, erzählt Finke. Ein Kollege sei in der Mensa-Warteschlange einmal gefragt worden: "Na, darfst du dir heute auch mal die Hochschule angucken?" Er habe dann ganz trocken gekontert: "Nee, du, ich hab 'nen Lehrauftrag."