Inklusion am Gymnasium:Warum ein Bremer Gymnasium gegen die eigene Senatorin klagt

Inklusion an der Schule

Inklusion "schafft Teilhabe im Rahmen des Machbaren", sagt Birgit Wiesenbach, Leiterin des Zentrums für unterstützende Pädagogik (ZuP) am Bremer Gymnasium Links der Weser.

(Foto: Uwe Anspach/dpa)
  • Ein Bremer Gymnasium wehrt sich juristisch dagegen, im kommenden Schuljahr eine Inklusionsklasse einrichten zu müssen.
  • Um den Streit nachvollziehen zu können, muss man sich damit befassen, was Inklusion am Gymnasium überhaupt bedeutet.
  • Dabei gibt es viele Missverständnisse; etwa, dass Inklusions- und Regelkinder ständig im gleichen Raum sitzen und einander hemmen.

Von Thomas Hahn

Das Gymnasium Horn ruht wie ein freundlicher Koloss im bürgerlichen Frieden des Bremer Ostens. Kein Plakat, nicht mal eine kleine Gemäuerschmiererei deutet darauf hin, dass die Schule gerade in einem offenen Streit mit der Bildungsbehörde über das große Thema Inklusion steckt. Das Gebäude strahlt Kraft und Gleichmut aus nach der umfassenden Sanierung, die im letzten Sommer nach dreieinhalb Jahren zu Ende ging. In der Aula erinnert ein Plakat mit Unterschriften an die 50-Jahr-Feier 2017. Ein Schild bezeugt das neue Konfuzius-Klassenzimmer für den Chinesisch-Unterricht im Haus.

Aber die Achtklässler, die gerade den Hartplatz auf dem Schulhof für eine Partie Pausenfußball entern, wissen sehr wohl, dass ihre Schulleiterin Christel Kelm vor dem Verwaltungsgericht gegen die Inklusionsklasse klagt, welche die SPD-Senatorin Claudia Bogedan dem Gymnasium im nächsten Schuljahr zuweisen will. Ein Junge sagt: "Ich bin auf Frau Kelms Seite." Weil er keine Menschen mit Behinderung mag? "Nein. Mein Vater arbeitet mit Behinderten. Aber das wäre scheiße, wenn die Schule noch mal umgebaut würde. Da habe ich keinen Bock drauf."

Worauf Christel Kelm Bock hat in diesem Zwist, ist gerade nicht so einfach festzustellen. Das Verfahren schwebt, die Schulleiterin hat sich mit der Bildungsbehörde darauf verständigt, vorerst keine Stellungnahmen abzugeben. Schweigend muss sie deshalb die Debatte geschehen lassen, die der Klage folgt und die zunächst vor allem aufgeregt war.

"Dieser offene Verhinderungsversuch der Einrichtung einer inklusiven Klasse erfüllt mich mit Scham", empörte sich nach den ersten Berichten Christian Gloede, Landesvorstandssprecher der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Der Pädagoge Michael Felten hingegen, Betreiber der Webseite Inklusion-als-problem.de, applaudierte auf Spiegel Online und wünschte viel Erfolg: "Denn Bildungsbehörden würde damit verwehrt, per Federstrich von ihren Lehrkräften das Unmögliche zu verlangen." Die Frage, wie man die Teilhabe von Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf im Bereich Wahrnehmung und Entwicklung (W&E) am Regelunterricht organisieren kann, verschwand hinter Extrempositionen.

Aber so einfach ist der Rechtsstreit nicht. Auf den Laien wirkt Inklusion am Gymnasium wie ein unauflösbarer Widerspruch. Sollen Menschen mit geistiger Behinderung etwa Abitur bekommen, während Normalbegabte wegen schlechter Noten Ehrenrunden drehen? Fachleute hingegen wissen, dass diese Frage an der Wirklichkeit vorbeizielt. Um die Horner Klage besser einschätzen zu können, muss man erst mal verstehen, was Inklusion am Gymnasium bedeutet.

Die Senatorin Bogedan könnte das sicher erklären, aber das tut sie nicht. Zum Verfahren hat sie zwei Stehsätze formuliert, nach denen ihr Ansinnen vertretbar sei. Bei allgemeinen Fragen zur Inklusion lässt sie sich von ihrer Sprecherin Annette Kemp entschuldigen. Das Thema sei gerade "so sensibel". Die Frage nach dem Widerspruch zwischen Leistungsanspruch und Teilhabe-Verantwortung beantwortet Annette Kemp. Für sie ist da kein Widerspruch: "Inklusion heißt doch nicht gleiche Anforderungen stellen."

"Inklusion am Gymnasium verlangt von Lehrern nichts Unmögliches"

Was das heißt, kann man sich am Gymnasium Links der Weser im rauen Stadtteil Obervieland erklären lassen. Acht Gymnasien gibt es in Bremen, zwei haben Inklusionsklassen, eines davon ist das Gymnasium Links der Weser. Schulleiter Uwe Sudmann und Birgit Wiesenbach, Leiterin des hauseigenen Zentrums für unterstützende Pädagogik (ZuP), empfangen zu einem kleinen Rundgang. Inklusion hat an ihrer Schule Tradition, die schon vor der Bremer Schulreform von 2009 begann und auf eine Kooperation mit dem benachbarten Förderzentrum zurückgeht. Heute führt das Gymnasium sieben Inklusionsklassen mit maximal fünf W&E-Kindern und -Jugendlichen. Diese haben die unterschiedlichsten geistigen Behinderungen, teilweise so schwere, dass man sie tatsächlich nicht am Regelunterricht teilnehmen lassen kann. Aber das hat ja auch keiner vor.

"Es ist ein Missverständnis, dass diese Kinder ständig mit den Regelkindern in einem Klassenzimmer sitzen und für sie zum Hemmnis werden", sagt Sudmann. Inklusionsklassenzimmer bestehen aus zwei Räumen, die durch eine Tür verbunden sind. In dem größeren läuft der Regelunterricht, an dem die W&E-Kinder je nach Begabung zeitweise teilnehmen. In dem kleineren bekommen die W&E-Kinder ihre individuelle Betreuung. Der Raum hat eine Küchenzeile für das Fach Hauswirtschaft, das Alltagstätigkeiten vermittelt: einkaufen, kochen, abspülen. Ein behindertengerechtes Bad gehört zur Ausstattung, ein Differenzierungsraum als Rückzugsort.

Ein Förderschullehrer und eine Klassenassistenz betreuen die Gruppe. Für ein mehrfach behindertes Kind kommt eine dritte Kraft hinzu. In Berührung mit der Regelklasse kommen die W&E-Kinder vor allem in Fächern wie Sport oder Kunst, bei Klassenfahrten oder zwischendurch im Schulhaus. Ihre zwölfjährige Schulpflicht endet nicht in der Oberstufe, sondern meistens in Werkstufen zur Berufsvorbereitung. Sie pauken nicht für das Abitur, sondern sammeln Erfahrungen im sozialen Gefüge. "Es geht für sie um Lebenspraxis", sagt Birgit Wiesenbach und findet: "Inklusion am Gymnasium verlangt von Lehrern nichts Unmögliches, sondern schafft Teilhabe im Rahmen des Machbaren."

Aber die räumlichen Voraussetzungen müssen dafür in der Tat gegeben sein - womit man wieder bei der Klage von Christel Kelm wäre. Siegbert Meß, Vorsitzender des Schulvereins und gleichzeitig Elternvertreter am Gymnasium Horn, ist auf ihrer Seite. Dass die Klage kein Anschlag auf die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen ist, ist für ihn klar: "Wir sind fest davon überzeugt, dass das Ziel der Eltern, der Lehrkräfte und der Direktorin darin liegt, Ja zur Inklusion zu sagen, Ja - aber richtig: gerecht und rechtsstaatlich korrekt."

Das Gymnasium Horn ist nicht inklusionsgerecht ausgestattet - trotz der jahrelangen Sanierung. Außerdem kann sich Christel Kelm auf das Bremer Schulgesetz berufen, denn darin steht: "Der Unterricht im Gymnasium berücksichtigt die Lernfähigkeit der Schülerinnen und Schüler mit einem erhöhten Lerntempo auf einem Anforderungsniveau, ermöglicht aber auch den Erwerb der anderen Abschlüsse."

Der Paragraf ist widersprüchlich und passt nicht zwingend zur Inklusion. Dass sie eine Herausforderung bleibt, die mehr Fachkräfte und mehr Raum nötig hätte, sagt ja selbst die Bildungsbehörde. Aber muss man deshalb vor Gericht ziehen? Uwe Sudmann nennt die Klage "irritierend". Er und Birgit Wiesenbach finden den Konflikt nicht zeitgemäß, den Christel Kelm damit groß macht.

Elternvertreter Meß wiederum ist der Meinung, dass die Senatorin Bogedan den Ärger leicht hätte verhindern können in diesen Zeiten, in denen sie auch wegen der Flüchtlinge mehr W&E-Kinder denn je an den Schulen unterbringen muss. Gespräch statt Verfügung hätte Entspannung gebracht, glaubt er: "Das zentrale Problem heißt Kommunikation." Wer weiß, wozu es gut ist. Siegbert Meß ist jedenfalls gespannt, wie der Rechtsstreit ausgeht: vielleicht mit Auflagen für die Behörde, die das inklusive Schulwesen stärker machen.

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