Inklusion am Gymnasium:"Ein Beinbruch hätte mir genügt"

Inklusion am Gymnasium: "Am Anfang wurde mir in den Klassenzimmern immer ein Platz in der ersten Reihe freigehalten. Ich habe dann irgendwann gesagt, dass ich querschnittsgelähmt bin und nicht sehbehindert": Amelie Ebner.

"Am Anfang wurde mir in den Klassenzimmern immer ein Platz in der ersten Reihe freigehalten. Ich habe dann irgendwann gesagt, dass ich querschnittsgelähmt bin und nicht sehbehindert": Amelie Ebner.

(Foto: Stephan Rumpf)

Amelie Ebner ist querschnittsgelähmt und bereitet sich auf das Abitur vor. In ihrem Blog beschreibt sie, wie man nicht den Humor verliert.

Von Matthias Kohlmaier

Es ist ein Satz, der so auch in der wuchtigen Prosa des zu jung verstorbenen Autors Wolfgang Herrndorf stehen könnte. Der Satz, der eigentlich so einfach ist und trotzdem mehr transportiert als manch seitenlanger Essay, geht so: "Meine Beine können ja das Blut nicht mehr hochpumpen, deswegen fehlt es im Kopf und ich seh' schwarz!"

Der Satz stammt von Amelie Ebner, 20 Jahre alt. Seit einem Skiunfall vor bald drei Jahren ist sie vom sechsten Halswirbel abwärts querschnittsgelähmt. Tetraplegie wird die Behinderung von Medizinern genannt, weil alle Gliedmaßen von der Lähmung ganz oder teilweise betroffen sind. Seit Ende 2013 schreibt Amelie unter dem Namen "zweiterfebruar.blogspot.de" über ihr Leben im Rollstuhl, über Schmerzen und Therapien, Familie und verlorene Freunde, Rückschläge und Triumphe. Und natürlich über die Schule. Trotz ihrer Behinderung und langer Fehlzeiten wird Amelie in wenigen Monaten an einer Regelschule das Abitur machen.

2. Februar 2013: Mit Freunden unternimmt Amelie einen Skiausflug nach Österreich, sie ist eine sehr gute Skifahrerin. Gegen Mittag prescht sie einen Steilhang hinunter, der am Ende eine scharfe Kurve macht, die in ein Flachstück mündet. Sie will viel Schwung mitnehmen, muss aber kurz vor der Abzweigung einem Skifahrer ausweichen und wird aus der Kurve getragen. Das an die Piste angrenzende Fangnetz ist viel zu wenig gespannt, ein Eisenpfeiler dahinter nicht gepolstert. Amelie trägt einen Helm, der ihr vermutlich das Leben rettet; beim Aufprall wird jedoch der sechste Halswirbel herausgedrückt und durchtrennt große Teile des Rückenmarks. Sie habe schon am Unfallort gewusst, dass sie nun im Rollstuhl werde sitzen müssen, sagt Amelie später. Es folgen Operationen, Krankenhaus in Österreich, Krankenhaus und Reha in Deutschland, monatelang. Noch heute muss Ebner fünfmal pro Woche zur Therapie.

Geschafft hat sie all das auch dank einer Menge Pragmatismus. "Ich war glücklich, als ich mir drei Monate nach dem Unfall zum ersten Mal wieder einen Kopfhörer selbst ins Ohr stecken konnte", erzählt sie am Esstisch ihrer Eltern etwas nördlich von München. Ein bildhübsches Mädchen mit braunen Augen, langem Haar und gepiercter Unterlippe. In ihrem Rollstuhl rutscht sie oft hin und her, lange still zu sitzen schmerzt. Trotzdem sagt sie: "Ich wollte sofort zur Schule gehen, nachdem ich aus der Reha wieder zu Hause war. Ab Oktober 2013, also etwa acht Monate nach dem Unfall, bin ich täglich wieder für ein oder zwei Stunden dort gewesen. Mehr war von der Konzentration her nicht drin. Ab Januar ging es dann wieder in Vollzeit." Durch die Therapien hat sie ein paar Funktionen zurückgewonnen, kann etwa den rechten Trizeps wieder ansteuern. "Ein Beinbruch hätte mir genügt", schreibt sie lakonisch in ihrem Blog.

Amelie Ebner, 2. Februar 2014

"Einjähriges mit meinem Querschnitt. Schatz, ich liebe dich nicht unbedingt, kann's mir aber nicht mehr ohne dich vorstellen. Ich hoffe nur, du lässt mich irgendwann gehen."

Mit einer Ausnahmegenehmigung des Kultusministeriums besucht Amelie zum Halbjahr wieder die zehnte Klasse, fast genau ein Jahr nach ihrem Unfall. Die Schule, das Oskar-Maria-Graf-Gymnasium in Neufahrn, bemüht sich, ihr den Wiedereinstieg leicht zu machen. "Unsere schwierigste Aufgabe war es, bereits vorhandene Behinderteneinrichtungen nutzbar zu machen", sagt Schulleiter Franz Vogl. In Putzkammern umfunktionierte Behinderten-WCs werden umgeräumt, Türklinken versetzt, Schwellen entfernt. Über Aufzüge verfügt das Schulhaus ohnehin. Der Bezirk Oberbayern finanziert für Amelie einen Schulwegbegleiter, der sie durchs Schulhaus schiebt und im Unterricht und in Prüfungen unterstützt.

"So eine Behinderung kann man nicht ausgleichen"

Ein Donnerstag Ende November 2015, Mathe-Doppelstunde, Stochastik. Von der Fortbewegung abgesehen, ist Amelie eine Schülerin wie alle anderen auch, arbeitet mal mit, langweilt sich zwischendurch. "Hatten wir in Deutsch eine Hausaufgabe?", fragt eine Mitschülerin. Amelie antwortet mit dem Mantra des gemeinen Oberstufenschülers: "Keine Ahnung."

Neben ihr sitzt Schulwegbegleiter Magnus und macht Notizen. "Das brauchst du nicht mitzuschreiben", sagt Amelie, sie hat den Stoff ohnehin drauf. Wann immer es geht, schreibt sie selbst, obwohl sie in den Fingern keinerlei Gefühl hat. Sie steckt den Stift dafür zwischen Zeige- und Mittelfinger, die Handfläche zeigt nach unten, die Schreibbewegung kommt großteils aus der Schulter. Das Schriftbild ist überraschend gleichmäßig, dafür hat Amelie hart trainiert. Auf dem Weg zum Abitur ist das Schreiben trotzdem ihr größtes Problem.

Im Deutsch-Abitur müssen die Schüler fünf Stunden am Stück mit der Hand schreiben. Als Nachteilsausgleich bekommt Amelie zwar 50 Prozent Zeitaufschlag - trotzdem ist es für sie fast unmöglich, knapp acht Stunden am Stück konzentriert zu arbeiten. "So eine Behinderung kann man nicht ausgleichen", sagt Schulleiter Vogl. Dennoch versuche man, für das Deutsch-Abi eine unkonventionelle Lösung zu finden. Amelie könnte den Text zum Beispiel einem Deutsch-Lehrer diktieren, der ihn dann kommentarlos niederschreibt. Sie experimentieren in Neufahrn eine Menge, auch in den zusätzlichen Einzelstunden, die das Ministerium wegen Amelies Behinderung genehmigt hat. "Es müssen beim Nachteilsausgleich immer Einzelfallregelungen gefunden werden, Schablonen gibt es keine", sagt auch Georg Suttner, Referent für Inklusion am Gymnasium beim bayerischen Kultusministerium.

Amelie Ebner, 22. November 2015

"Wir wissen nicht, was morgen ist. Man denkt immer, es trifft einen eh nicht. Und dann steht man da. Oder steht eben nicht mehr."

Aber egal, welche Variante sich am Ende als die beste erweist: Die gleichen Bedingungen wie ihre Klassenkameraden wird Amelie nie haben. Die vielen Therapien, Ärger mit den Krankenkassen, dazu Hausaufgaben und Vorbereitung, da bleibt kaum Zeit für Hobbys oder Erholung. "Bei mir dauert einfach alles viel länger, zu Hause habe ich ja keinen Schulwegbegleiter, der mir die Sachen auf den Schreibtisch legt", sagt Amelie, und streicht sich mit dem Handrücken eine Haarsträhne aus dem Gesicht. "Um einen Ordner aus dem Schulranzen zu kriegen, brauche ich dann schon mal fünf oder zehn Minuten." Dennoch will sie alltägliche Dinge selbst erledigen, wenn es nur irgendwie geht.

Und auch wenn die Schule in Sachen Inklusion vieles unternimmt, läuft nicht alles perfekt. Wie das in einer zwanzigminütigen Pause aussehen kann, beschreibt Amelie in einem Blogeintrag aus dem Oktober 2014: Sie muss zur Toilette, leider ist diese dort, wo sie gerade Unterricht hat, nicht behindertengerecht. Sie muss ins Erdgeschoss, rüber ins andere Gebäude, zum Aufzug, rauf in den ersten Stock, denn auf der Toilette im Erdgeschoss ist das Licht kaputt. Später muss sie zurück zum Aufzug. Hier heißt es noch einmal warten. Dann wieder runter ins Erdgeschoss, rüber ins andere Gebäude, rauf in den zweiten Stock, da hat sie Mathe. "Wenn ich Glück hab, schaff ich das in 20 Minuten. Essen geht schlecht, während ich fahre oder geschoben werde. So verbring ich jede Minute, die nicht zum Unterricht zählt, mit hin und her hetzen . . .", schreibt Amelie.

Einen Behindertenbonus gibt es für Inklusionsschüler wie Amelie also gewiss nicht. Vielleicht hat ihr auch deshalb nach ihrer Rückkehr an die Schule ein Lehrer indirekt empfohlen, es doch an einer für sie passenderen Bildungseinrichtung zu versuchen. Sie hat das sehr deutlich abgelehnt, wollte es am Gymnasium schaffen. "Bei entsprechenden Voraussetzungen soll jedes Kind - unabhängig von einer Behinderung - die Möglichkeit haben, an jede Schule zu gehen", sagt Georg Suttner vom Kultusministerium. Amelie strebt ein Abitur mit der Note 1,9 an. Danach will sie Jura studieren.

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