Süddeutsche Zeitung

Hamburg:Werkstatt der Vielfalt

Zehn Jahre nach ihrer Gründung haben die Stadtteilschulen genauso viele Anmeldungen wie die Gymnasien. Es ist eine Erfolgsgeschichte, die so nicht zu erwarten war - doch mancherorts stößt das Konzept an seine Grenzen.

Von Thomas Hahn

Eine fröhliche Frau steht in der Tür. Britta Vennemann, Büroleiterin an der Stadtteilschule Ida-Ehre-Schule, winkt den Gast gleich durch ins Zimmer von Schulleiter Kevin Amberg, der jetzt eigentlich eine Mittagspause verdient hätte, bevor er in den Unterricht muss. So kurz vor den Ferien sind nicht mehr viele Termine frei. Außerdem gibt es gerade keinen Stellvertreter, deshalb muss der Chef besonders sorgsam mit seiner Zeit haushalten. Kevin Amberg grüßt, erzählt kurz vom Stress, lächelt. Keine Klagen. Er ergreift gerne die Gelegenheit, über das Prinzip Stadtteilschule zu sprechen. Mit Leidenschaft vertritt er den Anspruch, Bildung größer zu denken als nur im Rahmen von Noten und eingefahrener Fachlichkeit. Er sagt: "Als Leiter dieser Schule kann ich aus voller Überzeugung sagen: Hier ist jedes Kind genau richtig."

Die Stadtteilschule ist ein Alleinstellungsmerkmal des Hamburger Schulbetriebs, eine Werkstatt der Vielfaltsgesellschaft - und eine Zumutung für alle, die glauben, dass man Schülerinnen und Schüler fein säuberlich nach Leistung trennen sollte. Vor zehn Jahren entstand sie in den Wirren erbitterter Auseinandersetzungen um die richtige Bildung für den Hamburger Nachwuchs. Alle stritten damals um das Vorhaben der schwarz-grünen Regierung, die Primarschule einzuführen, eine Grundschule, die statt vier sechs Klassen umfasst. Das Vorhaben scheiterte an einem Volksbegehren. Die Enttäuschung war groß bei den Primarschulverfechtern.

Eine Wiedereinführung des G 9? In der Hansestadt kommt die Debatte nicht mehr in Fahrt

Aber gleichzeitig setzte die Politik eine Empfehlung um, die 2007 eine Enquête-Kommission eingebracht hatte: Förder-, Haupt-, Real- und Gesamtschule sollten demnach verschmelzen und neben dem achtstufigen Gymnasium eine neue Einheit bilden. Die Politik erweiterte die Empfehlung um jene Eigenschaft, die kein anderes Bundesland so vorsieht: Im Zwei-Säulen-Modell sollte die Stadtteilschule grundsätzlich sämtliche Abschlüsse anbieten, auch das Abitur nach neun Jahren. 2010 ging es los. CDU, Grüne und SPD sicherten das Modell mit dem sogenannten Schulfrieden ab. Sie vereinbarten, bis 2020 keine neue Strukturreform anzustreben.

Heute ist die Stadtteilschule etabliert. Neulich erst hat Bildungssenator Ties Rabe (SPD) mit Blick auf die Anmeldezahlen für den Sommer von einer "erfreulichen Entwicklung" gesprochen. 7050 Kinder sind für die fünften Klassen der 58 Stadtteilschulen vorgemerkt, 7197 für die der 61 staatlichen Gymnasien - die Stadtteilschulen haben also fast gleichgezogen. So bewährt haben sie sich, dass die Debatte um die Wiedereinführung des neunstufigen Gymnasiums (G 9) in der Hansestadt nicht mehr in Fahrt kommt. CDU-Fraktionschef André Trepoll legte im Januar seiner Partei nahe, über G 9 nachzudenken. Sie zog nicht richtig mit - und Rabe sowieso nicht: Ein neunstufiges Gymnasium gefährde die Stadtteilschule, findet er, die ja auch deshalb für viele so attraktiv ist, weil sie letztlich Hamburgs G 9-Option ist.

Kevin Amberg braucht erst recht keine neue G 9-Debatte. Wenn es um die Stadtteilschule geht, ist er Überzeugungstäter. Gegensätze zu vereinen, scheint sein Ding zu sein. Er hat die seltene Fächerkombination Deutsch/Mathematik. Mit Stolz berichtet er "von der wahnsinnigen Vielfalt", welche die Ida-Ehre-Schule anziehe. "Bei uns ist alles dabei": Kinder aus 40 Nationen mit unterschiedlichsten Förderbedarfen und Talenten. Manche haben Lernschwierigkeiten, andere eine Gymnasialempfehlung, wieder andere mussten das Gymnasium mangels Erfolg nach der sechsten Klasse verlassen. Wie bekommt man die alle in einen Unterricht? "Das ist eine Frage des Angangs", sagt Amberg, "wir blicken nicht zuerst auf Ziele, sondern auf das, was den Unterrichtsgegenstand zusammenhält."

Das heißt: Es geht weniger um die Frage, was ein Schüler am Ende können muss, als vielmehr darum, was er kann, um zu verstehen, wie er sich im Zusammenspiel mit den anderen bestmöglich entwickelt. Die Lehrkräfte arbeiten mit Sonderpädagoginnen und -pädagogen zusammen, mit Sozialpädagoginnen und -pädagogen, mit Erzieherinnen und Erziehern. Alle schauen aus ihrer jeweiligen Perspektive auf jeden einzelnen Schüler, sprechen über ihre Beobachtungen, entwickeln daraus gemeinsam den Unterricht. Projektarbeit ist neben den klassischen Fächern ein wichtiger Teil des Stundenplans. Jeder Schüler kann aus einer Palette an Angeboten ein Profil wählen, das Fachwissen in den Zusammenhang von Lebenswirklichkeit setzt. Die fünften Klassen stemmen jedes Jahr ein großes Theaterprojekt, bei dem sich 160 Schülerinnen und Schüler auf die verschiedenen Aufgaben verteilen: Bühnenbild, Kostüme, Tanz, Schauspiel. In den späteren Jahrgängen geht es um Themen wie Medienwelten, Teamsport, Kochen, Nachhaltigkeit. Lernen und Tun fließen ineinander. Noten gibt es an der Ida-Ehre-Schule erst von der achten Klasse an. "Bis zur siebten Klasse gibt es kompetenzorientierte Rückmeldungen", erklärt Amberg, sozusagen ein umfassendes, konstruktives Feedback zu Stärken und Schwächen in den Fächern, aber auch mit Blick auf die individuelle Lernentwicklung.

Schule erscheint hier wie eine lange, begleitete Suche nach dem richtigen Weg ins Berufsleben. Aus dieser Fürsorge wachsen besondere Geschichten. "Es gibt Schüler, die kamen mit großen Sprachproblemen hierher und haben später eine Eins im Deutsch-Abitur", sagt Amberg. Hält er die Stadtteilschule für die perfekte Schule? Amberg überlegt kurz. Dann sagt er: "Ich würde mal sagen, ja. Wenn man eine gut durchmischte Schülerschaft hat."

Amberg kann sich nicht über zu wenig leistungsstarke Schüler beklagen. Das ist nicht überall so

Die hat nicht jede Stadtteilschule. Die Ida-Ehre-Schule liegt in Eimsbüttel, einem sozial ausgewogenen Stadtteil. Amberg kann nicht sagen, dass er zu wenig leistungsstarke Schülerinnen und Schüler hätte. Aber andere Stadtteile haben unverhältnismäßig viele Kinder aus sogenannten bildungsfernen Haushalten. "Es gibt eine ungeheure soziale Schieflage", sagt Anna Ammonn, Vorsitzende des "Verbandes für Schulen des gemeinsamen Lernens" in Hamburg, "es gibt ja etwa 25 Prozent Kinder in Armut - und die sind fast ausschließlich auf den Stadtteilschulen". Sie findet das Zwei-Säulen-Modell gerechter als die alten Verhältnisse. Die Lage der Gymnasien ist ihr trotzdem zu bequem, weil diese praktisch alle, die ihren Ansprüchen nicht genügen, an die Stadtteilschulen weiterdelegieren können. Sie hat deshalb drei Forderungen: Kein G 9 an Gymnasien. Gymnasien sollen alle Kinder behalten, die sie mal aufgenommen haben. Gymnasien sollen sich mehr um Inklusion bemühen.

Kevin Amberg weiß um die gute Lage seiner Schule. Sie ist gewachsen in den vergangenen Jahren, 1300 Schülerinnen und Schüler hat sie mittlerweile, um die sich 160 pädagogisch Tätige kümmern. Es ist etwas eng im denkmalgeschützten Haupthaus des Architekten und verehrten früheren Hamburger Oberbaudirektors Fritz Schumacher. Aber keine langen Klagen. Die Schulgemeinschaft arbeitet gerade selbst an einem Raumkonzept nach den Ansprüchen einer Stadtteilschule. Es kann anstrengend sein, mit der Vielfalt umzugehen. Aber man sieht dem Schulleiter Kevin Amberg an, dass es ihm Spaß macht.

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SZ vom 11.03.2019
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