Philologenverband fürchtet Entwertung des Abiturs
Der Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes, Heinz-Peter Meidinger, befürchtet eine zunehmende Entwertung des Abiturs. "Generell muss tatsächlich bezweifelt werden, ob heute noch in vielen Fällen hinter der durch das Abitur verliehenen Studienberechtigung auch eine Studienbefähigung steht", sagte er Nachrichtenagentur dpa. "Das ist übrigens kein bloßes Bauchgefühl, sondern auch das Ergebnis von seriösen Studien wie etwa der Tosca-Studie, die Leistungen von Oberstufenschülern in verschiedenen Bundesländern miteinander verglichen hat."
Zu einem Spiegel-Bericht über die Häufung von Top-Abiturnoten zwischen 2006 und 2013 sagte der langjährige Chef der Gewerkschaft der Gymnasiallehrer: "Die nachweisbare massive Zunahme von Einser-Schnitten liegt mit Sicherheit nicht daran, dass in Deutschland bei Abiturienten plötzlich eine Leistungsexplosion stattgefunden hat." Er denke zwar, dass man sich auch heute noch in den meisten Bundesländern für ein sehr gutes Abitur ordentlich anstrengen müsse. "Allerdings ist sicher auch wahr, dass das Abitur in Deutschland zu sehr unterschiedlichen Preisen vergeben wird, das heißt die Anforderungen nicht immer vergleichbar sind. Die eigentlich Gelackmeierten der Bestnoten-Inflation sind die Spitzenschüler, weil deren Spitzenleistung in der Einser-Schwemme untergeht."
Kultusminister debattieren Vereinheitlichung von Abi-Aufgaben
Dem Spiegel zufolge weicht der Anteil der Einser-Abiturienten, aber auch der Durchfaller in manchen Ländern regelmäßig deutlich vom Bundesdurchschnitt ab. Das Magazin hatte Daten der Kultusministerien und des Statistischen Bundesamtes zu den Abiturgesamtnoten 2006 bis 2013 ausgewertet. Danach schlossen 2013 in Thüringen 37,8 Prozent aller Kandidaten mit der Eins vor dem Komma ab, in Niedersachsen nur 15,6 Prozent. Die Kultusministerkonferenz (KMK) will sich an diesem Donnerstag und Freitag in Berlin mit einer stärkeren Vereinheitlichung von Abituraufgaben zwischen den Bundesländern befassen.
Grundsätzlich gibt es bereits seit einigen Jahren Bestrebungen der KMK, das Abitur deutschlandweit vergleichbarer zu machen. So bedienen sich bereits einige Bundesländer aus einem gemeinsamen Aufgabenpool für die Fächer Deutsch, Mathematik, Englisch und Französisch. Im Schuljahr 2016/2017 soll das Abitur erstmals überall nach den neuen Kriterien abgelegt werden. Noch besteht jedoch das Problem, dass Länder die Aufgaben aus dem gemeinsamen Pool abändern dürfen und so eine Vergleichbarkeit nur bedingt gewährleistet ist.
Meidinger vermutet, dass Schulen, die besonders gute Abi-Noten vergeben, dies "nicht ohne politische Vorgaben oder zumindest das Gefühl, dass das von oben so gerne gesehen wird", tun. Der Philologenverbands-Vorsitzende weiter: "Das ist ja ein Prozess auf Gegenseitigkeit. Die Schule steht gut da, weil sie so gute Ergebnisse erzielt, und die Landesregierung steht gut da, weil ihre Abiturienten generell so gute Ergebnisse erzielen, was ein Beweis für die erfolgreiche Qualität der betriebenen Bildungspolitik ist."
In den vergangenen Jahren seien Oberstufen- und Abiturreformen immer so konzipiert gewesen, "dass dadurch auch strukturell die Leistungen besser geworden sind - durch schülerfreundliche Wahloptionen, eine Verstärkung der mündlichen Noten oder eben auch einfachere Prüfungsformate".
Fallbeispiel: Niedersachsen
Immer mehr niedersächsische Abiturienten schließen das Gymnasium mit der Bestnote 1,0 ab - im bundesweiten Vergleich landet Niedersachsen mit einem Notendurchschnitt von 2,6 jedoch auf dem letzten Platz. Etwa ein Drittel der Abiturienten erreicht nur ein Ergebnis zwischen 3,1 und 4,0. Das geht aus einer Statistik des Kultusministeriums hervor.
Die Zahl der Schüler, die in Niedersachsen ihr Abitur mit 1,0 abschließen, hat sich in den vergangenen sieben Jahren fast verdoppelt. Erreichten im Jahr 2007 noch etwa 130 Abiturienten die Bestnote, waren es im vergangenen Jahr bereits etwa 250. Etwa 16 Prozent der mehr als 32 000 niedersächsischen Abiturienten schlossen 2014 die Schule mit einer Note unter 2,0 ab. Insgesamt - auch das muss beim Anstieg der Einser-Abis berücksichtigt werden - stieg aber auch die Zahl der Kinder, die ein Gymnasium besuchen: Im vergangenen Jahr waren fast 7000 Schüler mehr als noch 2008 zur Abi-Prüfung zugelassen.