Eigentlich war die Sache klar. Marie* würde auf die Grundschule in der Nähe gehen, so wie die anderen Kinder in ihrem Viertel auch. Dass der Migrantenanteil hier, im Münchner Westen, höher ist als anderswo, war Matthias Schubert*, Maries Vater, egal. Er wollte keine Extrawurst für seine Tochter. Wie oft hatte er sich über die vielen besorgten Eltern lustig gemacht, die ihrem Nachwuchs eine künstlich heile Welt vorgaukeln. Er mochte die bunte Mischung in seinem Kiez.
Der Infoabend in der Schule war vielversprechend. Die Lehrer wirkten nett, die Direktorin engagiert, das pädagogische Programm durchdacht. Irritierend war nur, wie sehr das Kollegium um seine Tochter warb. "Sie wurde in eine Art Promi-Position gehoben", erzählt Matthias Schubert. Bald wurde ihm auch klar, warum: Ursprünglich hätten sechzehn Kinder deutscher Herkunft in die ersten Klassen kommen sollen, doch ein Elternpaar nach dem anderen hatte einen Antrag auf Schulwechsel gestellt. Marie war die letzte verbliebene Erstklässlerin ohne Migrationshintergrund. Nach längerem Überlegen taten die Schuberts, was die anderen deutschen Eltern vor ihnen auch getan hatten: Sie beantragten den Schulwechsel.
Es ist ein Clash der Ideale, der sich jedes Jahr vor allem in den sich rasant wandelnden Szenevierteln der Großstädte vollzieht. Deutsche Eltern, die bisher friedlich Tür an Tür mit Türken, Arabern, Osteuropäern gelebt haben und sich selbst als weltoffen und tolerant empfinden, stehen vor einem Dilemma: Sollen sie ihr Kind an einer sozial problematischen Schule anmelden, weil das - gesamtgesellschaftlich gesehen - für alle gerechter wäre? Oder sollen sie für ihr Kind diejenige Schule auswählen, die ihm subjektiv das bestmögliche Lernumfeld bietet? Was ist das überhaupt: ein besseres Umfeld? Vielleicht doch die sozial gemischte Schule, weil sie auf das Leben in einer heterogenen Gesellschaft vorbereitet?
In diesen Wochen und Monaten springt es wieder an, das Karussell der Grundschulplatz-Vergabe. In der Theorie soll es sich gemächlich drehen, damit jeder ungeachtet seiner Herkunft aufsteigen kann. Deswegen gilt in Deutschland fast überall das sogenannte Sprengelprinzip. Das heißt, die zukünftigen Erstklässler werden je nach Wohnort einer bestimmten Schule im entsprechenden Grundschulbezirk - dem Sprengel - zugeteilt. Klingt vernünftig: Der Weg zur Schule soll für die Kleinen nicht zu weit sein, die soziale Selektion in diesem Alter verhindert werden. In der Praxis sieht die Lage allerdings anders aus.
Jedes Jahr scheren viele Eltern aus, wie die Schuberts. In Großstädten stellen zehn Prozent einen Wechselantrag, vor allem gut ausgebildete, gut verdienende Deutsche. Eltern mit Migrationshintergrund entscheiden sich deutlich seltener gegen die ihnen zugewiesene Grundschule, das belegt eine Studie des Bildungsforschers Simon Morris-Lange vom Sachverständigenrat Deutscher Stiftungen für Integration und Migration. Die Folge: Die soziale Spaltung in den Schulen wird immer größer. Schulen in "Problembezirken" mit hohem Zuwandereranteil werden gemieden, diejenigen in gut situierten Mittelschichtgegenden bevorzugt - egal, ob die Familien dort wohnen oder nicht.
"Es war eine Entscheidung Kopf gegen Herz", bestätigt Matthias Schubert. Und ja, er habe noch heute ein schlechtes Gewissen deswegen. "Ich hätte nie gedacht, dass ich mal auf der Seite der Stresser-Eltern stehen würde." Aber seine Tochter zu "einer Art Integrationsbeauftragten" zu machen, das wollte er auch nicht. Heute gehe sie auf eine Schule mit ebenfalls hohem Migrantenanteil, aber eben nicht als einziges deutsches Kind. Sein Fazit: "Würden alle Eltern an einem Strang ziehen, gäbe es das Problem nicht. Der Schulwechsel wird einem zu leicht gemacht."
Tatsächlich gibt es viele Möglichkeiten, sich der Sprengelschule zu entziehen. Wer mit seinem Gastschulantrag nicht durchkommt, etwa weil die gewünschte Schule keine Kapazitäten mehr hat, kann dagegen Widerspruch einlegen. "Meistens klappt das", sagt der Berliner Rechtsanwalt Olaf Werner, der sich auf Schulrecht spezialisiert hat. Er prüft dann, ob die zuständige Behörde Fehler gemacht hat bei der Vergabe der Plätze und streitet über einzelne Aufnahme-Entscheidungen.
Ein guter Ansatzpunkt seien auch Scheinanmeldungen. "Ein großes Thema", sagt Werner, "es gibt bestimmte Schulen, da ahnt man, dass wahrscheinlich zwanzig Prozent Scheinanmelder dabei sind". Scheinanmelder, damit meint er Eltern, die sich unter einer anderen Adresse im Einzugsbereich der Wunschschule angemeldet haben, aber dort in Wirklichkeit gar nicht wohnen. Seinen Klienten rät Werner dringend davon ab. "Nicht, weil das grundsätzlich erfolglos wäre. Aber die Gefahr besteht, dass das auffliegt." Nicht zuletzt durch Anwälte wie ihn, die in den Akten gezielt nach solchen schwarzen Schafen suchen.
Wenn es nach Kirsten Hinkler ginge, könnte sich jede Familie ihre Schule frei aussuchen. Die Künstlerin wohnt mit ihrem Partner und zwei Söhnen in Berlin-Schöneberg. Als 2013 ihr älterer Sohn in die erste Klasse kommen sollte, wurde er einer Schule mit beinahe 70 Prozent Kindern nichtdeutscher Herkunft zugewiesen. "Keiner in unserer Kita wollte da hin, alle sagten, es sei schrecklich dort", erzählt sie. Daraufhin habe sie angefragt, ob sie im Unterricht hospitieren könne - erfolglos. "Bei der Anmeldung füllten dann fast alle Gastschulanträge aus, darauf hat die Schulsekretärin extrem pampig reagiert." Überhaupt habe sie das ganze Prozedere der An- und Ummeldung als "unerfreulich" empfunden: "Es dauerte Monate, bis klar war, auf welche Schule mein Sohn kommen würde. Für ihn war diese Unsicherheit schlimm."
Ausgewählt hat sie dann schließlich eine private Montessorischule. "Kinder sollen dort nicht die Erwartungshaltung von Lehrern erfüllen, sondern die Lehrer die der Kinder. Diese Einstellung hat mich überzeugt", sagt Kirsten Hinkler. Dass die Schule weit draußen am Wannsee lag, wo der Sohn jeden Tag hingebracht und abgeholt werden musste, störte sie nicht: "Wir hatten ganz schnell Fahrgemeinschaften, das war kein Ding." Inzwischen ist er auf eine Freie Schule gewechselt, von deren Konzept sie ebenfalls begeistert ist. Dabei wäre ihr eine staatliche Schule eigentlich lieber gewesen, schon aus finanziellen Gründen. Aber: "Wenn man so wie ich an eine bestimmte pädagogische Richtung glaubt, hat man gar nicht die Möglichkeit, auf eine Regelschule zu gehen."
Anwälte einschalten, sich illegal woanders anmelden, den Sohn auf eine Privatschule schicken: Für Markus Fiedler* kam das alles nicht infrage. "Keine der Optionen war mir sympathisch." Der Ingenieur wohnte mit seiner Frau jahrelang in Berlin-Mitte, allerdings am äußersten Rand, einer "zugigen Gegend", wie er es nennt. Als die Einschulung des Sohnes bevorstand, wurde klar: Die Schulen in der Nähe waren überfüllt, aus diesem Grund schickte der Bezirk die Kinder auch in weiter entfernte Schulen im Wedding. "Die Qualitätsunterschiede sind enorm", sagt Markus Fiedler, "selbst unseren Bekannten, die aus Einwandererfamilien stammen, war es dort zu krass." Aus Sorge um ihren Sohn, den sie als zu schüchtern für ein womöglich raues Schulklima empfanden, wählten die Fiedlers die vierte Option: Sie zogen ein paar Hundert Meter weiter, in den Prenzlauer Berg um und damit in einen anderen Schulbezirk. "Das hat ein Heidengeld gekostet, und wir haben uns, was die Wohnung angeht, deutlich verschlechtert", gibt Markus Fiedler zu. "Aber wir wollten nicht Vorreiter eines sozialen Projektes sein."
Je mehr Eltern man befragt, desto klarer wird: Niemand fällt die Entscheidung für oder gegen eine Schule leichtfertig. Alle investieren viel Mühe und Zeit, um die für sie beste Lösung zu finden. Doch weil die Sorge um das Kind groß ist und es zu wenige verlässliche Informationen über die Qualität einer Schule gibt, nehmen die Eltern den Zuwandereranteil als Indikator, den sie mit einem schlechten Lernniveau gleichsetzen. Das zeigt sich auch auf den Schulseiten des Berliner Senats. Dort ist die am häufigsten abgerufene Information die mit dem "ndH"-Anteil - dem Anteil der Kinder nichtdeutscher Herkunft.
Die Frage ist: Geht diese Gleichung auf? "Nein", sagt Bildungsforscher Simon Morris-Lange, "ein Migrationshintergrund ist ja nicht automatisch mit niedriger Bildung gleichzusetzen. Außerdem arbeiten viele dieser Schulen sehr erfolgreich. Kinder aus bildungsnahen Familien können auch dort gute Lernerfolge erzielen." Der größte Lernzuwachs sei in Klassen mit großen Leistungsunterschieden festgestellt worden. "Nicht nur, weil die Schwachen von den Starken profitieren, sondern weil das andersherum genauso gilt. Die Lehrer sind dann angehalten, auf jedes Kind individuell einzugehen, und das ist für alle gut."
"Die lernen denselben Stoff wie woanders auch"
Xenia Seidel hat genau diese Erfahrung gemacht. Die Juristin schickt ihre Kinder auf die ihnen zugewiesene Fröttmaninger Grundschule im Münchner Norden, die als "Problemschule" gilt. "Natürlich haben wir lange überlegt, ob wir das machen sollen", sagt sie, "aber wir wollten nicht, dass unsere Kinder in einer Seifenblase aufwachsen." Außerdem war ihr wichtig, dass sie alleine hinlaufen können. Ihre Töchter fühlten sich dort von Anfang an wohl, die Klassen sind klein, die Lehrer kompetent. "Die Kinder wissen jetzt, dass nicht alle so wohnen wie wir", sagt Xenia Seidel, "und eine meiner Töchter hat eine Freundin mit elf Geschwistern."
Sorgen, dass ihre Kinder nicht gut genug aufs Gymnasium vorbereitet werden könnten, macht sie sich nicht: "Ich habe das verglichen, die lernen denselben Stoff wie woanders auch." Die Realität sei: "Kinder wie unsere kommen gut mit, doch viele werden gnadenlos abgehängt und können oft in der zweiten Klasse noch nicht lesen und schreiben." Weil sie dabei nicht länger zuschauen wollte, gründete sie vergangenen Oktober zusammen mit ihrer Schwägerin den gemeinnützigen Verein Lernkrokodile, der Kindern aus sozial benachteiligten Familien kostenlose Hausaufgabenbetreuung anbietet. "Wir sehen jetzt schon die ersten Lernerfolge", freut sich Xenia Seidel.
Gibt es eine Lösung für dieses Dilemma? Wie wäre es mit der Abschaffung des Sprengelprinzips? Keine gute Idee, findet Simon Morris-Lange. "Nordrhein-Westfalen hat 2008 die freie Grundschulwahl ermöglicht, in Wuppertal stieg daraufhin die Segregation messbar an." Dann also mehr staatlicher Zwang? "Das würde nur einen Ansturm auf die Privatschulen auslösen", wehrt Rechtsanwalt Olaf Werner ab.
Eine Alternative wäre: Entspannung. Mehr Transparenz aufseiten der Schulen, weniger Hysterie aufseiten der Eltern, die dann prophylaktisch reagieren, ohne vorab beurteilen zu können, was alles schieflaufen könnte mit dem eigenen Kind. "Der Ruf als angebliche Problemschule sollte auf jeden Fall hinterfragt werden", sagt Forscher Simon Morris-Lange. Also anstatt dem "Spielplatzfunk" ungefiltert Gehör zu schenken: "Sich informieren und jeder Schule eine Chance geben."
*Namen geändert