Großbritannien:Sicher ist sicher

Wider Image: Speakers' Corner - Home of Free Speech

Das Speakers’ Corner im Londoner Hyde Park steht wie kein anderer Ort für die Tradition der freien Rede in Großbritannien. Diese Freiheit sehen nun einige bedroht, ausgerechnet an den Universitäten.

(Foto: Stefan Wermuth/Reuters)

Kann man den Studenten diesen Lehrstoff zumuten? Oder diesen Gastredner? Großbritannien, stolze Heimat der "free speech", streitet hitzig über die Rede- und Meinungsfreiheit an den Universitäten.

Von Cathrin Kahlweit

Nigel Biggar war auf dem Weg in den Urlaub, als ihn die Wut-Lawine erwischte. Er hatte Ende vergangenen Jahres einen längeren Artikel für die Times geschrieben, in dem er provokant behauptete, es sei heutzutage geradezu zwanghaft politisch korrekt, den Kolonialismus zu verdammen. Dabei hätten Kolonialreiche auch ihr Gutes gehabt. Mit der Überschrift ("Wir müssen uns unserer Kolonialgeschichte nicht schämen") war er nicht besonders glücklich gewesen; er fand sie etwas reißerisch. Aber was soll man machen, dachte er, Zeitungen müssen ihre Texte ja auch verkaufen.

Über gepackten Koffern erfuhr er wenige Tage später, dass der Artikel für eine Welle der Empörung gesorgt hatte. Sein E-Mail-Account quoll über von Beschimpfungen. Die eigenen Kollegen am berühmten Christ Church College in Oxford, Historiker, Ethiker, Politikwissenschaftler, hatten einen Protestbrief verfasst. Dann ein weiterer Schock für den 62-Jährigen: 170 Wissenschaftler aus aller Welt schlossen sich der Kritik an Biggar an und forderten den Dekan auf, das Projekt zu verhindern. Dieses sei "trivial" und "ignorant". Biggar meine, Wohltaten und Untaten aufrechnen zu können. Studentenvertreter fanden, Biggar sei nicht mehr länger tragbar, seine Ideen seien "bigott", "reaktionär" und rassistisch.

Natürlich, sagt Professor Biggar, frage man sich, ob man selbst irre sei - oder die Welt

Was war geschehen? Der Professor für Moraltheologie hatte in dem Artikel von einem fünfjährigen Projekt berichtet, das er am Christ Church College durchführt und das bereits im vergangenen Sommer gestartet war. Es heißt "Ethics and Empire", Ethik und Kolonialreich, und will die Geschichte von Imperien, allen voran dem britischen, daraufhin überprüfen, ob die vernichtende Kritik am Imperialismus berechtigt ist. Oder, anders gesagt, ob es richtig ist, dass sich die Briten für ihre Kolonialgeschichte schämen.

Unschwer zu erraten: Biggar findet das falsch. Wer glaube, was überzeugte Antikolonialisten sagten, nämlich dass die imperiale Geschichte des Königreichs eine lange, ungebrochene Litanei der Unterdrückung, Ausbeutung und Selbsttäuschung gewesen sei, der mache sich mit seinem Schuldgefühl zum Opfer von Manipulation, sagt der Moraltheologe. Aber Stolz könne Scham abmildern, und es gebe viele Gründe, auf Errungenschaften wie Ordnung, Bürokratie, demokratische Elemente, Bildung in den Kolonien stolz zu sein.

Es gibt auch viele gute Gründe, anderer Meinung zu sein. Aber muss das Projekt deshalb gestoppt werden? Wer Biggar heute in seinem Arbeitszimmer im Christ Church College besucht, der trifft auf einen immer noch zutiefst erschrockenen Mann. Er habe mit diesem Shitstorm nicht gerechnet, sagt er, und er sei, ehrlich gesagt, nicht sonderlich dickhäutig. Natürlich frage man sich, wenn man wütende offene Briefe von renommierten Kollegen lese, ob man selbst irre sei - oder die Welt.

Einzelne Professoren haben, unter anderem wiederum in Leserbriefen an die Times, mittlerweile für den Kollegen Stellung bezogen, Stichwort "Verteidigung der freien Rede": "Unterschiedliche Ansichten, Ansätze und wissenschaftliche Zugängen zu Forschung und Lehre zu haben - das macht Universitäten aus", schreibt etwa ein Historiker aus Oxford. "Man kann immer anderer Meinung sein, aber die Kritik an Biggar grenzt an Mobbing."

Es sind Fälle wie dieser, welche die Debatte über Rede- und Meinungsfreiheit an britischen Universitäten gerade heftig befeuern. Streitig sind Lehrinhalte, aber mehr noch Gastauftritte auf dem Campus und die Frage, wer dafür zuständig ist, sie zu erlauben oder zu verhindern. Ausgehend von den USA hatte sich in den vergangenen Jahren auch in Großbritannien ein Streit darüber entwickelt, ob Lehrstoff, der als zu kontrovers oder emotional betrachtet wird, von den Studierenden verweigert werden darf - und ob Universitäten mit ihrem vorauseilenden Gehorsam, strittige Themen nicht mehr auf Lehrpläne zu setzen oder strittige Gastredner aus Angst vor Ärger nicht mehr einzuladen, zur Herausbildung von "Snowflakes", besonders empfindlichen jungen Menschen, sogar noch beitragen. Letzter großer Skandal in einer langen Liste von Aufregern: Die Studentengewerkschaft der Londoner School of Oriental and African Studies hatte im Zuge der "intellektuellen Entkolonisierung" die Entfernung weißer Philosophiedozenten vom Lehrplan gefordert.

Der bisher in der Regierung für die Universitäten zuständige Staatssekretär, Jo Johnson, Bruder des bekannteren Außenministers, der im Rahmen einer Kabinettsumbildung kürzlich ins Transportministerium versetzt wurde, hatte unlängst eine Brandrede in der BBC gehalten. Studentenprotest von rechts und links, aber auch die übergroße Vorsicht mancher Hochschulleitungen, sei eine Bedrohung für die große Tradition der freien Rede an britischen Bildungseinrichtungen; da agierten Menschen, die lieber gar keine Debatten führen, als sich abweichende Meinungen oder unbequeme Argumente anhören wollten. "Wie immer gut gemeint das im Einzelfall sein mag, so untergräbt doch die Ausweitung sogenannter sicherer Orte (safe spaces) und von Auftrittsverboten (no platforming), die Entfernung strittiger Bücher aus Bibliotheken und die stetig länger werdende Warnliste von traumatisierenden Wörtern (trigger warnings) die Freiheit."

Johnson kündigte an, er werde das neu gegründete Office of Students (OfS) beauftragen, Studentenorganisationen, aber im Zweifel auch Rektorate mit Strafzahlungen zu belegen, wenn sie die freie Rede auf dem Campus nicht beschützten. Schließlich sei es gesetzlich vorgeschrieben, dass Lehranstalten die Meinungsfreiheit förderten. Das Office of Students, das erst im April seine Arbeit aufnehmen wird, ist eine neue Aufsichtsbehörde, die den Wettbewerb unter Universitäten regeln soll, Prüfungsordnungen und Titelvergaben überwachen - aber auch eminent politische Aufgaben übernehmen soll.

Dazu gehört die Frage, ob Hochschulen einerseits das 2015 vom Parlament verabschiedete "Prevent-Gesetz" einhalten, das Terrorismus bekämpfen und extremistische, islamistische Tendenzen in Bildungseinrichtungen verhindern soll. Und ob sie andererseits sicherstellen, dass Dozenten, die unpopuläre Meinungen vertreten, zu Wort kommen. In letzter Zeit hatte es landesweit regelmäßig Aufregung darüber gegeben, dass Student Unions, vergleichbar mit Studierendenausschüssen (Astas) oder Studentenräten in Deutschland, Rednern Auftritte auf dem Campus verwehrt hatten. Darunter waren Schwule und Feministinnen gewesen, denen die Studenten vorwarfen, "transphob" zu sein, aber auch jüdische Redner, denen vorgehalten wurde, die "Unterdrückungspolitik des Staates Israel" gegenüber den Palästinensern zu rechtfertigen.

Johnsons Idee, Strafen für Fehlverhalten zu erlassen, hat ihm viel Spott eingebracht; ob es nun, da er nicht mehr Wissenschaftsstaatssekretär ist, je dazu kommen wird, ist ohnehin nicht abzusehen. Aber: Im Parlament untersucht mittlerweile ein "select committee" des Menschenrechtsausschusses, eine Art Enquete aus Mitgliedern des Unter- und Oberhauses, ob die Regierung genug dafür tut, die Meinungs- und Redefreiheit an Universitäten zu schützen. Und wo die Grenzen dieser Freiheiten sind.

Lord David Trimble, der einst mit John Hume den Nobelpreis für die Aushandlung des Friedensabkommens für Nordirland bekam, ist Ausschussmitglied. Er findet es "irritierend", dass vor allem konservative Politiker an Unis angegriffen oder gar nicht erst eingeladen würden. Die "No-platforming"-Regeln der Vergangenheit, nach denen jenen keine Plattform gegeben werden sollte, die faschistische oder neofaschistische Meinungen auf den Campus trügen, stammten aus der Hochphase der British National Party in den Nullerjahren, damals habe das noch einen Sinn gehabt. "Aber heute? Wildwuchs."

An der Universität tritt ein Tory-Politiker auf? Ein Fall für die "Safe-space-Marshals"

Im Sinn dürfte Lord Trimble einen Vorfall aus jüngster Zeit haben. Unlängst hatte der Tory-Politiker Jacob Rees-Mogg am King's College in London gesprochen. Die Studentenvertretung hatte das so besorgniserregend gefunden, dass sie "Safe Space Marshals" abgeordnet hatte, die dafür sorgen sollten, dass sich kein Student bedroht oder herabgewürdigt fühle. Rees-Mogg nannte das eine "Form der Zensur".

Die neue, heiße Debatte über teils absurde Forderungen nach intellektuellen und emotionalen Schutzzonen an Unis hat nun immerhin dazu geführt, dass sowohl Rektoren als auch Studentenvertreter bei den Anhörungen im Parlament vor Auswüchsen und Extremen warnen. Eine Art Gegenbewegung zu Zensur und Selbstzensur sei spürbar, betont Anand Menon, Politikwissenschaftler am King's College. Bevor sich die Regierung einmische, einigten sich die Lager an den Universitäten lieber selbst.

Im Falle von Nigel Biggar, dem Moraltheologen aus Oxford, hat sich die Universitätsleitung hinter den Akademiker gestellt, und bisher hält die Student Union still. Biggar will weitermachen; "Ethik und Kolonialreich" wird demnächst, Mitte Februar, mit einer Konferenz über mittelalterliche Reiche fortgesetzt - aber im kleinen Kreis, Teilnahme nur auf Einladung.

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