Gespräch über Bildungsaufsteiger:"Manche kappen ihre Wurzeln komplett"

Aladin El-Mafaalani, Deutscher Studienpreis

Aladin El-Mafaalani ist Professor für Politikwissenschaften an der FH Münster.

(Foto: David Ausserhofer; Aladin El-Mafaalani)

Sie haben sich von ganz unten nach ganz oben hochgekämpft: Der Soziologe Aladin El-Mafaalani hat 40 "Extremaufsteiger" interviewt. Mit welchen Problemen studierte Arbeiterkinder noch heute zu kämpfen haben - und warum Bildungserfolg manchmal am Esstisch beginnt.

Von Johanna Bruckner

Was braucht es, damit Kinder aus armen Familien den Wunsch entwickeln, es nach oben zu schaffen? Der Soziologe und Politikwissenschaftler Aladin El-Mafaalani hat 40 "Extremaufsteiger" gefragt, die sich aus einfachsten Verhältnissen hochgekämpft haben. "Vom Arbeiterkind zum Akademiker" heißt seine jüngst veröffentlichte Studie.

Herr Mafaalani, welche Erfolgsgeschichte hat Sie besonders beeindruckt?

Eine Aufsteigerin, mit der ich gesprochen habe, ist in einem Umfeld der Verwahrlosung aufgewachsen. In ihrer Kindheit kamen alle erdenklichen Risikofaktoren zusammen: Arbeitslosigkeit der Eltern, Drogen, Gewalt, kein Vertrauen in der Familie, kaum soziale Bindungen. Dennoch hat es diese Frau über Umwege geschafft, zu studieren und sich beruflich zu etablieren.

Den wenigsten gelingt der soziale Aufstieg. Schulische, vor allem aber akademische Bildung hat in bildungsfernen Elternhäusern ein schlechtes Image - woran liegt das?

Menschen aus bildungsfernen Milieus leben in Knappheitsverhältnissen. Sie verfügen über einen niedrigen oder gar keinen Schulabschluss, haben schlecht bezahlte Jobs, die wenig angesehen sind. Das, was fehlt - also zum Beispiel Geld und Anerkennung - wird für sie umso erstrebenswerter. Das prägt auch das Bildungsverständnis: Bildung wird nur dann als sinnvoll erachtet, wenn sie einen unmittelbaren Nutzen bringt.

Welche Art von Bildung erscheint nützlich?

In der Ausbildung zum Mechatroniker lerne ich beispielsweise, wie ein Motor funktioniert, damit ich ein Auto reparieren kann. Das ist logisch und nachvollziehbar. Das bildungsbürgerlich-akademische Ideal - Bildung als Selbstzweck - ist bildungsfernen Familien dagegen nur schwer zugänglich. Zudem werden die Zugangshürden beim Studium als sehr hoch wahrgenommen. Die Abiturnote ist entscheidend und die setzt sich aus allen möglichen Fächern zusammen - darunter wiederum solche, die als sinnlos empfunden werden. Insbesondere Sprachen und musisch-künstlerische Bereiche. Unsere Tradition humanistischer Gymnasialbildung führt zu einer unsichtbaren Diskriminierung unterer Milieus, die sich nur langsam auflöst, beispielsweise durch technische Gymnasien.

Ein Studium ist heute sehr stark auch eine Geldfrage.

Natürlich spielt die Finanzierungsfrage eine wichtige Rolle. Bei einem Studium muss ich in Vorleistung gehen, ohne heutzutage noch sicher sein zu können, dass sich meine Investition später auszahlt. Aus einer bildungsfernen Lebenswelt heraus ist es total rational, dieses Risiko nicht einzugehen. Es ist eher überraschend, wenn es jemand doch tut.

Dazu braucht es ein Schlüsselerlebnis.

Ja. Alle Aufsteiger, mit denen ich gesprochen habe, sind irgendwann an einen Punkt gelangt, an dem sie gemerkt haben: Ich komme hier mit meinem Denken und Verhalten nicht weiter. Diese Enttäuschung oder Kränkung hat dann den Wunsch nach persönlicher Veränderung hervorgerufen.

Wie muss ich mir so eine Erweckungserfahrung vorstellen?

Ein Beispiel: Ein junger Mann aus einfachsten Verhältnissen hat es bereits bis an die Uni geschafft, arbeitet sogar als studentische Hilfskraft. Kognitiv ist er auf Augenhöhe mit seinen Kommilitonen. Aber bei einem Uni-Fest fällt ihm auf: Die anderen reden nicht mit vollem Mund, bei denen läuft der Wechsel von Essen und Sprechen intuitiv. Er schämt sich plötzlich für seine eigenen Tischmanieren. Das mag banal klingen, aber dieses Uni-Fest führt dazu, dass der junge Mann noch stärker an sich arbeitet - und er beginnt, sich von seinem Herkunftsmilieu zu distanzieren. Das ist ein ganz entscheidender Punkt: Denn auf der sozialen Leiter hochzuklettern, bedeutet immer auch, sich von vielem, was einem in der Kindheit und Jugend lieb und teuer war, verabschieden zu müssen.

"Sozialer Aufstieg ist ein schmerzhafter Prozess"

Sie meinen von der Familie und den alten Freunden?

Bei vielen Aufsteigern wird der Kontakt zu Eltern und Freunden irgendwann weniger, ja. Manche kappen ihre Wurzeln sogar komplett. Das hängt auch vom kulturellen Hintergrund ab. Türkeistämmige Aufsteiger wachsen in einem Umfeld auf, das von Loyalität und Solidarität geprägt ist. Das macht es ihnen zunächst einfacher, weil sie von zu Hause aus viel Unterstützung bekommen. Schwierig wird es, wenn sie sich emanzipieren, ihr eigenes Ding machen wollen. Das kann zu massiven Konflikten und sogar zum Abbruch des Kontakts führen. Andererseits lässt sich in dieser Gruppe auch ein interessanter "Pull-Effekt" beobachten: Manche Kinder ziehen ihre Eltern mit auf ein höheres soziales Niveau.

Wie das?

Indem sie sie beispielsweise überreden, einen Deutschkurs zu besuchen oder kulturelle Angebote wahrzunehmen. Die Rollenverteilung kehrt sich um, was auch nicht unproblematisch ist. Sozialer Aufstieg ist ein steiniger, oft schmerzhafter Prozess. Das erklärt auch, warum viele irgendwann aufgeben oder umkehren. Man muss es aushalten können, Außenseiter zu sein.

Weil das Bildungsbürgertum Emporkömmlingen mit Ablehnung begegnet?

Das mag vorkommen, aber entscheidend ist das gefühlte Alleinsein. Niemand, der sich nicht selbst die soziale Leiter hochgekämpft hat, kann die Situation und die Probleme von Aufsteigern nachfühlen. Weder die Kumpels aus der Kindheit und Jugend noch die neuen Freunde aus dem Bildungsbürgertum. Viele Aufsteiger sind erstaunt, wenn sie hören, dass es anderen auf ihrem Weg nach oben ähnlich ergangen ist - wenn Schwierigkeiten auftraten, haben sie die Gründe dafür eher bei sich gesucht. Bildungsaufsteiger sind sehr selbstkritisch.

Inwiefern?

Sie spiegeln ihr Verhalten permanent. Beobachten ganz genau, wie sich ihre Art, anderen zu begegnen, zu sprechen, zu gestikulieren von der ihres Umfelds unterscheidet. Diese habituelle Unsicherheit kann sich durchziehen bis weit ins Berufsleben hinein. Insbesondere in sozialen Situationen, bei Verhandlungen oder Geschäftsessen, fühlen sich Aufsteiger oft gehemmt.

Also versuchen sie, sich anzupassen?

Schlussendlich: ja. Viele machen in der Jugend oder an der Uni mal eine rebellische Phase durch. Aus Protest überbetonen sie für kurze Zeit ihre Herkunft und ihre Habitusunterschiede. Aber insbesondere die sehr erfolgreichen Aufsteiger haben sich im Verlauf stark angepasst. Das geht so weit, dass sie das bildungsbürgerliche Klischee leben: Man trinkt gerne Rotwein, hört klassische Musik und legt sich eine eigene Bibliothek zu.

Wenn man Ihnen zuhört, bekommt man den Eindruck, dass sozialer Aufstieg eine sehr stark individuelle Leistung ist. Wird die Rolle der Schule in der Diskussion um Bildungsgerechtigkeit überschätzt?

Nein. Meine Interviewpartner haben die Schule alle vor dem Pisa-Schock verlassen. Das mag mit erklären, warum Lehrer in den Erfolgsgeschichten keine Rolle spielen. Aber jeder Aufsteiger hatte einen "sozialen Paten". Also eine Person aus einem höheren Bildungsmilieu, die als Vorbild und Mentor beziehungsweise Mentorin fungiert hat. Das war in einem Fall die Mutter der besten Freundin. Ein anderes Mal ein Theaterregisseur, der einen jungen Mann mehr oder weniger zufällig für die Schauspielerei begeistert hat. Alleine ist der Aufstieg nicht zu schaffen.

Aladin El-Mafaalanis Eltern sind aus Syrien nach Deutschland eingewandert. Er selbst ist hier geboren, arbeitet heute als Politik-Professor an der FH Münster. Seine Forschung zu Bildungsaufsteigern ist mehrfach preisgekrönt.

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