Studium:Die Germanistik muss raus aus der Misere

"MARIA STUART" BEI DEN BAD HERSFELDER FESTSPIELEN

Um die Aktualität Friedrich Schillers, hier eine Inszenierung seines Dramas "Maria Stuart", muss man sich wohl keine Sorgen machen. Die Wissenschaft, die sich um ihn und seinesgleichen dreht, steht jedoch in der Kritik.

(Foto: dpa)

Verschwurbelt, unbedeutend, zu viele Studenten - die Germanistik kaut an immer denselben Vorwürfen. Die Disziplin muss endlich ihre Probleme analysieren.

Von Gianna Niewel

Es sollte um "Europa im Übergang" gehen, um Flüchtlingsromane und transnationales Theater, 180 Germanisten aus der ganzen Welt waren nach Flensburg gekommen. Tagung der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik (GiG). Dann ging es doch auch um die Krise, in der das Fach angeblich gerade steckt. Beziehungsweise um das, was von dem Krisengerede zu halten ist.

Die Diskussion hatte Anfang des Jahres der Spiegel-Autor Martin Doerry mit seinem Artikel "Schiller war Komponist" angestoßen. Seine Kritik: Die Germanistik könne keine relevanten Intellektuellen mehr vorweisen, ihre Forschung zerfasere, ihre Lehre leide unter einer Überzahl von Studenten. Nach wie vor gelte, "wer nicht so recht weiß, was er mal werden soll, studiert eben gern mal Germanistik". Doerry, das nur am Rande, hat selbst Germanistik studiert. Es ist also auch eine Kritik an seinem Fach.

Die Widerrede kam reflexhaft. Germanisten meldeten sich zu Wort, um zu sagen, dass sie sich sehr wohl zu Wort melden. Dass sie wissenschaftliche Texte nicht verschwurbelt schreiben würden, sondern in einer Wissenschaftssprache - wie auch Juristen, Mediziner, Physiker. Und dass die Germanistik natürlich einen Wert für die Gesellschaft habe. Wieso solle sich ein Fach, bei dem der Mensch im Zentrum steht, wenn auch als literarische Figur, überhaupt rechtfertigen?

Dieter Heimböckel, 56, ist stellvertretender Vorsitzender der GiG, er hat in Flensburg den Vortrag gehalten, der im Programmheft auffiel: "Krisenrhetorik und Legitimationsritual", er redet auch ein paar Tage später noch darüber. Er redet über die "sogenannte Krise" und seine Wortwahl zeigt, was er davon hält.

Die Germanistik löste im 19. Jahrhundert Latein ab als Fach, an dem die Nation sich bildete. Sie wurde ideologisiert in den 1930er Jahren, in den 1960er Jahren arbeitete sie sich an dieser Ideologisierung ab. Im April 1971 titelte die Zeit "Das Fach in Dauerkrise". Auch als Heimböckel sich an der Universität Duisburg einschrieb, gab es Kritik: Die FAZ klagte im März 1987 über "Das Elend des Krisengeredes". Zum Verstummen kam das Gerede nicht. "Sind Germanistik und Krise nicht ein und dasselbe?" fragte im März 1997 die Zeit.

Das Fach ist damit beschäftigt, sich selbst zu legitimieren

Heimböckel wurde mit einer Arbeit über Walter Rathenau promoviert, habilitierte sich zur Sprachkritik bei Heinrich von Kleist, lehrte in Duisburg und Regensburg. Derzeit unterrichtet er Literatur und Interkulturalität an der Universität in Luxemburg. Die Kritik an seinem Fach hört Heimböckel noch immer.

"Die Germanistik steckt in einer Legitimationsspirale", sagt er, "die wirklich wichtigen Themen werden dabei nicht angesprochen." Nicht von außen. Aber auch nicht von innen. Das Fach ist damit beschäftigt, sich selbst zu legitimieren. Dabei gebe es Redebedarf.

"Es ist an der Zeit, dass wir uns wieder empören"

80 000 junge Männer und Frauen sind derzeit eingeschrieben, die Germanistik ist das mit Abstand beliebteste geisteswissenschaftliche Fach an deutschen Hochschulen. So zu tun, als würden die Studenten alle nicht mehr lesen, könnten nicht mehr schreiben und hielten Schiller für einen Komponisten - das greife zu kurz.

Weitreichender und relevanter ist für ihn die Frage, welche Reformen zu den vielen Einschreibungen geführt haben. Da ist die Umstellung von G 9 auf G 8. Da ist Bologna. Und da sind in Folge Studenten, die durch ihr Studium rauschen, ECTS-Punkte sammeln und keine Zeit mehr haben, eine kritische und produktive Distanz zu entwickeln. Die sich vielleicht nicht mehr fragen, was es 1787 bedeutet hat, dass Schiller seinen Marquis von Posa zum König sagen lässt: "Geben Sie Gedankenfreiheit". Oder was Gedankenfreiheit heute bedeutet.

Weitreichend und relevant ist für Heimböckel außerdem die Frage, wie die Germanistik mit den Reformen und ihren Folgen umgehen kann. Ein Numerus Clausus? Tests zu Beginn? Heimböckel sagt: nein. Er schlägt stattdessen vor, die Kommunikation zwischen Gymnasien und Universitäten zu verbessern, die Hochschuldidaktik aufzuwerten, die Tendenz zur Verschulung rückgängig zu machen. Nicht die Quantität der Prüfungen sei entscheidend, sondern die Qualität der Ausbildung - eigentlich eine Selbstverständlichkeit, aber auch die gehöre ausbuchstabiert. Dann werde die Germanistik auch kein Fach mehr sein, dem der Ruf vorauseilt, man könne es "eben mal" studieren.

Eine stärkere Auseinandersetzung mit der Bildungspolitik ist für ihn das eine. Das andere ist die gesellschaftspolitische Relevanz des Faches. Wie wirken Wörter? Wieso ist es problematisch, wenn in der Zeitung "Flüchtlingswelle" steht, als kämen die Menschen mit der Wucht einer Naturkatastrophe? Das sind Fragen der Zeit. Es sind auch Fragen des Sprachgebrauchs. Die Komplexitätsreduktion, die gerade stattfindet, die den Fundamentalismus ermöglicht - alles schon dagewesen, es muss nur jemand nachlesen. Und ja, natürlich gibt es Germanisten, die das wissen, die Antworten geben oder es zumindest versuchen. Aber gemessen an der Größe des Faches seien es wenige. "Es ist an der Zeit, dass wir uns wieder empören."

Heimböckel hat sich nicht nur über das neuerliche Krisengerede geärgert und darüber, dass es notwendige Fragen überlagert. Sondern auch darüber, dass immer von "der Germanistik" die Rede ist, als gebe es das eine Fach. Schon deutsche Universitäten unterscheiden zwischen Neuerer Literaturwissenschaft, Sprachwissenschaft und Mediävistik, also der Literatur und Sprache des Mittelalters. Zwischen Professoren, Doktoren, Doktoranden. Und die können einzeln überfordert sein, aber nicht als Kollektiv. Zum einen.

In Indien und China boomt das Fach

Zum anderen, sagt Heimböckel, ist das Krisengerede über die Germanistik immer auch eine Verengung, weil es allen voran die Kollegen meint, die im deutschsprachigen Raum lehren und forschen. Der Rest wird als "Auslandsgermanistik" abgetan und zu einer Germanistik zweiter Klasse herabgestuft, sagt er. Dabei verdienen gerade die Kollegen einen Blick.

In Indien und China boomt das Fach, überhaupt in Ländern, die nach Westen schauen. Da leben Menschen, die Deutsch lernen, um erst das Land und seine Kultur zu verstehen und dann an seine Wirtschaft anschließen zu können. Für den Moment erfreulich. Aber: "Wenn Deutschland seine ökonomische Vormachtstellung einbüßt, wird auch die Nachfrage nach Deutsch unausweichlich sinken", sagt Heimböckel. In Frankreich und Dänemark etwa ist sie schon gesunken, die Zahl der Studenten gehe seit Jahren zurück, das Fach werde kaum noch gelehrt. Aber auch hier: wenig Aufmerksamkeit, von außen, zu wenig Aufmerksamkeit aber auch aus dem Fach heraus. Weil Kollegen befangen sind. Weil sie sich nicht interessieren. Weil sie um sich selbst kreisen und um das Krisengerede. Wie fatal.

Die Politisierung der Germanistik, die stete Verbesserung der Ausbildung, die Herausforderungen, mit denen die Kollegen im Ausland kämpfen - darüber müsse tatsächlich geredet werden.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: