Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg:Revolution Süd-West

Im konservativen Baden-Württemberg hat Grün-Rot mit dem Umbau begonnen: Die ersten Gemeinschaftsschulen haben den Betrieb aufgenommen. Darin lernen die Kinder bis zur zehnten Klasse gemeinsam. Für Ministerpräsident Kretschmann hängt viel vom Erfolg der Reform ab.

Roman Deininger

Steffen Lonczig hatte alle Eltern in die Johann-Georg-Fischer-Schule eingeladen, und etwa siebzig Leute waren gekommen. Sie waren interessiert an dem, was er zu sagen hatte. Aber überzeugt waren sie noch lange nicht. Im Lauf des Abends präsentierte der junge Schulleiter drei Dutzend Folien, auf der ersten stand ein Motto: "Gemeinsam lernen - individuell fördern". In vielen Stichpunkten hatte Lonczig sein Plädoyer für die Gemeinschaftsschule zusammengefasst - und in einem bunten Bild. Ein Affe, ein Elefant, ein Seehund und ein Goldfisch sind darauf zu sehen, das sind die Schüler. Daneben steht ein riesiger Baum, davor sitzt ein Lehrer am Pult. Der Lehrer sagt zu den Schülern: "Im Sinne einer gerechten Auslese lautet die Prüfungsaufgabe für alle gleich: Klettern Sie auf den Baum!"

Integrationsprojekt 'Regenbogen'

Frontalunterricht ade: Im konservativen Baden-Württemberg führt Grün-Rot die Gemeinschaftsschulen ein.

(Foto: dpa)

Als der Abend vorbei war, hatte Lonczig ein gutes Gefühl. Und als wenig später die Anmeldefrist für die neue Schulform ablief, hatte er 37 Anmeldungen. Vom Herbst an wird die Grund- und Werkrealschule Süßen Gemeinschaftsschule heißen. "Natürlich gab es auch Eltern, die sagten: ,Mein Kind ist kein Versuchskaninchen'", erzählt Lonczig bei einem Kaffee in seinem Büro. "Aber ich bin sicher, dass wir die auch noch gewinnen können." Direktor Lonczig zweifelt nicht am Erfolg des großen Bildungsexperiments, zu dem Baden-Württemberg im neuen Schuljahr antritt.

58 Jahre lang regierte im Südwesten die CDU, bis die Grünen und die SPD sie 2011 aus der Regierung stießen. 58 Jahre lang war kein anderes Schulsystem vorstellbar als das gegliederte, also das Nebeneinander von Hauptschule, Realschule und Gymnasium. Jetzt hat Grün-Rot den Umbau begonnen: Die Schüler sollen nach der vierten Klasse nicht mehr getrennt werden, sondern bis zur zehnten Klasse miteinander lernen. Danach kann sich die gymnasiale Oberstufe anschließen. Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat recht offen erklärt, dass der Erfolg seiner Regierung entscheidend vom Erfolg der Bildungsreform abhängt. Die Einführung der Gemeinschaftsschule ist das Herzstück dieser Reform.

Der Wandel, so hat sich das die Regierung überlegt, soll in kleinen Schritten übers Land kommen. Gerade mal vierzig Schulen sind als "Starterschulen" ausgewählt worden, Lonczig und seine Schulleiter-Kollegen sind so etwas wie Pioniere eines neuen Lernens. Die Skepsis ist nämlich vielerorts groß. Warum sollte das Land überhaupt ein neues Lernen brauchen, wenn es mit dem alten an der Spitze vieler Bildungsrankings steht? Die Regierung ist gewarnt. Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen musste sein Modell der Gemeinschaftsschule auf Verlangen der CDU beschneiden; in Hamburg kippten die Bürger die Idee in einem Referendum. Und im immer noch konservativen Flächenland Baden-Württemberg gelten eh erschwerte Bedingungen.

Die CDU spricht dort nicht von der Gemeinschaftsschule, sondern abfällig von der "Einheitsschule", die eben "nicht mehr die individuellen Fähigkeiten und Bedürfnisse der Kinder berücksichtigt". Einem Gymnasiasten könne man nicht gerecht werden, wenn er mit Hauptschülern zusammen lerne, und umgekehrt. Kultusministerin Gabriele Warminski-Leitheußer (SPD) hält dagegen, dass nur die Gemeinschaftsschule die missliche Kopplung des Bildungserfolgs an die soziale Herkunft lösen könne. Sie gibt sich sicher, dass sich ihr Konzept im Duell der Systeme durchsetzen wird: "Die Eltern stimmen mit den Füßen ab."

Es muss ein Erfolg werden

Am Besprechungstisch in Lonczigs Büro sitzt einer neben dem Direktor, der in gewisser Weise bereits abgestimmt hat. Und das obwohl seine Tochter noch in den Kindergarten geht. Marc Kersting ist Bürgermeister hier in Süßen, einer beschaulichen 10.000-Einwohner-Stadt im Filstal, fünfzig Kilometer sind es nach Stuttgart. Kersting sagt: "Als Kommunalpolitiker muss ich gucken: Was ist das Beste für den Ort?" Er halte nun mal die Gemeinschaftsschule für das Beste, "die Chance, hier bei uns drei Abschlüsse anzubieten", den Quali, die Mittlere Reife und das Abitur. Ohne das neue Modell "hätten wir die Hauptschule wohl nicht erhalten können". Der alten Hauptschule gehen in Süßen wie überall im ländlichen Südwesten die Schüler aus.

Kersting und der Gemeinderat haben sich ebenso wie die Eltern von Lonczig überzeugen lassen. Dabei ist der Bürgermeister kein Grüner, und auch kein Roter. Er ist ein Schwarzer, der wie neun andere CDU-Bürgermeister im Land die Parteilinie einfach laufen lässt: "Wir machen das, von dem wir glauben, dass es bei uns funktioniert." Zumal das gemeinsame Lernen an der Fischer-Schule schon eine Weile erprobt wird. Seit zwei Jahren gibt es Kombinationsklassen, in denen die Jahrgangsstufen fünf und sechs zusammen unterrichtet werden. Die Schule ist bereits Werkrealschule. Diese Form hatte sich die CDU für Hauptschulen ausgedacht, die begabten Schülern noch eine zehnte Klasse und die Mittlere Reife anbieten können.

Wer durch die Flure der Fischer-Schule läuft, vorbei an farbenfroher Schülerkunst und VfB-Stuttgart-Fahnen, merkt sofort, dass hier etwas anders ist. Die Türen der Klassenräume stehen offen, während des Unterrichts dürfen sich die Schüler frei bewegen und sich zum Beispiel zum Gedichte-Lesen in der "Teestube" auf eines der roten Sofas fläzen. In den Klassenzimmern bauen sich die Lehrer nicht frontal vor wohlgeordneten Bankreihen auf - die Schüler sitzen an schief gestellten Tischen zu viert beisammen und bearbeiten ihre Aufgaben. In allen Fächern gibt es Pflicht-, Zusatz- und Profiaufgaben, je nach Leistungsstufe. Jeder Schüler führt einen Wochenplan, ein Zettel mit dem persönlichen "Wochenziel" klebt zur Erinnerung am Platz. Auf einem Fragebogen bewerten die Schüler selbst ihren Wissensstand.

"Flüstern!" steht an der Tafel. Wenn jemand eine Frage hat, geht er nach vorne und hängt eine Wäscheklammer mit seinem Namen an eine Leine. Dann kommt die Lehrkraft an den Tisch. Roswitha Schleicher unterrichtet seit 19 Jahren in Süßen, gerade muss sie sich auf die Zehenspitzen stellen, weil ein Schüler seine Klammer so hoch gehängt hat. Am Anfang, sagt sie, sei der neue Stil für sie und die Kollegen ein "Kulturschock" gewesen. Aber jetzt? "Möchte ich nicht mehr zurück. Früher war ich Lehrerin, heute bin ich Lernbegleiterin." Sie habe wegen der drei Leistungsniveaus mehr Aufwand, aber dann "viel mehr Zeit" für die einzelnen Schüler. Sogar die Disziplin in der Klasse sei durch die neuen Freiheiten gewachsen. Schleicher sagt: "Das hatte ich nicht erwartet."

Die Fischer-Schule besitzt auch sonst längst, was das Kultusministerium den Bewerbern um eine Gemeinschaftsschule abverlangt: Ganztagsbetreuung, Schulsozialarbeit und Integrationsideen für Schüler mit Behinderung. "Wir fangen hier nicht bei null an", sagt die Dritte in der Kaffeerunde, Elke Tippelt, die Vorsitzende des Elternbeirats. Man könnte reich werden, wenn man für jedes "wir", das an diesem Vormittag in Lonczigs Büro fällt, ein paar Euro bekäme. Wie in Süßen ist die Begeisterung für das gemeinsame Lernen an den meisten Starterschulen schon länger da - unter Schwarz-Gelb konnte sie sich nur noch nicht entladen. Und wie in Süßen hat das schwäbische Bildungsexperiment auch in Bergatreute, in Külsheim und anderswo schon vor Jahren begonnen, mit genau so viel übergreifendem Unterricht, wie das Ministerium erlaubte.

Solchen Enthusiasmus gibt es freilich nicht überall. Nicht jeder Lehrer stellt sich so gern um wie Roswitha Schleicher. Mit Ausnahme Tübingens ist keine einzige Großstadt unter den Starterschulen vertreten. An vielen kleineren Standorten verwandeln sich zwar Haupt- und Werkrealschulen bereitwillig in Gemeinschaftsschulen; die klassischen Realschulen nebenan bleiben aber lieber für sich. Außerdem soll die Zahl von Kindern mit Gymnasialempfehlung, die sich für die neue Schulform entschieden haben, sehr überschaubar sein. Steffen Lonczig sagt: "Wir und die anderen Starterschulen müssen nur zum Erfolgsmodell werden."

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