Süddeutsche Zeitung

Gemeinschaftsschule:Wo jeder Schüler einen Einzelarbeitsplatz hat

Das Modell der Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg ist umstritten. Wie es funktionieren kann, führt eine preisverdächtige Schule im Süden Heidelbergs vor.

Von Josef Kelnberger, Heidelberg

Man würde die Stadt Heidelberg nicht sofort auf eine Stufe stellen mit Berlin, Brüssel oder Amsterdam. Aber da gibt es diesen Stadtteil oben an einem Hang des Königstuhls, Emmertsgrund, ein Projekt des Wohnungsunternehmens Neue Heimat aus den Siebzigerjahren, unter Beteiligung von Alexander Mitscherlich geplant als Leuchtturmprojekt. Und nun: "Emmertsgrund, Berlin, Bruxel, Amsterdam ... Emmertsgrund das Ghetto mit dem Afrika-Umriss." Das singt Kurdo, ein Rapper, der dort wohnt. "Meine Welt ist parallel, fick das Parlament." Die Kids mögen solche Texte - aber wie verhalten sich die Kids, wenn sie aus der parallelen Welt in die Schule kommen?

Die Waldparkschule im benachbarten kleinen Stadtteil Boxberg galt wegen der Kinder aus Emmertsgrund viele Jahre lang als Brennpunktschule. Migrationsanteil: 80 Prozent. Zweimal, sagt Thilo Engelhardt, habe die Stadt Heidelberg erwogen, den Laden ab Klasse fünf dichtzumachen. Engelhardt leitet die Schule. Ein Kumpeltyp, entspannt, aber ein Mann des klaren Wortes und der Tat.

Man steht in der Aula, wo sich früher die Aggressionen Bahn brachen. Mittlerweile findet man schülergefertigte Mobiles an Schnüren, Bastelarbeiten in Glasvitrinen, Gemälde in Rahmen, und nichts geht mehr kaputt. Schüler erledigen hier allein oder in kleinen Gruppen Aufgaben. An diesem zentralen Ort arbeiten zu dürfen, gilt als höchstes Privileg für Waldparkschüler. In den Worten einer Schülerin, die mit dem Mathebuch unter dem Arm erschienen ist: "cool". Man muss sich das Privileg allerdings durch Leistung verdienen. Und wenn Unruhe in der Aula aufkommt, kann der Rektor unangenehm werden.

Schulhund Crumble mag keinen Lärm. Der Pegel ist gesunken, seit er am Unterricht teilnimmt

"Schule braucht Struktur", sagt Thilo Engelhardt. Das schon mal als Erklärung für den Aufschwung seines Hauses.

Binnen fünf Jahren ist die Brennpunktschule zur coolen Schule geworden. Unter mehreren Hundert Bewerbern gelangte sie in den Kreis der 20 Schulen, die für den Deutschen Schulpreis der Robert-Bosch-Stiftung nominiert wurden. Es winkt der Hauptpreis für die beste Schule des Jahres in Höhe von 100 000 Euro, den Kanzlerin Angela Merkel Ende Mai überreichen wird. Mitte Januar war eine Jury zu Gast in Heidelberg, sie wählt die 15 Schulen aus, die zur Feierstunde in Berlin eingeladen werden. Einer der Juroren schwärmte hinterher, ihm sei "das Herz aufgegangen", als er sah, wie Lehrer und Schüler miteinander umgehen. Engelhardt will demütig bleiben, schon jetzt fühle man sich reich beschenkt. Denn die Nominierung ist ein Zeichen: Schüler und Lehrer dürfen stolz sein nach fünf Jahren harter Arbeit.

Alles begann mit dem Wandel von einer Werkrealschule zu einer Gemeinschaftsschule. Deshalb ist die Nominierung auch ein Signal: Die von der grün-roten Regierung in Baden-Württemberg 2011 eingeführte Schulform kann funktionieren. Die CDU griff im Wahlkampf 2016 die Gemeinschaftsschulen als Inbegriff "grün-roter Gleichmacherei" an. Das Kollegium habe darunter gelitten, sagt Engelhardt. Die Stimmung hat sich nicht wesentlich gebessert, obwohl die Grünen in den Koalitionsverhandlungen mit der CDU die Schulart gerettet haben. CDU-Kultusministerin Susanne Eisenmann gewährt den Realschulen mehr Geld und Aufmerksamkeit. Und seitdem zwei Studien zu dem Ergebnis kamen, dass die Südwest-Schüler nicht mehr zur deutschen Spitze zählen, gilt die Gemeinschaftsschule vielen wieder als Ort der Beliebigkeit. Es gibt dort nämlich keine Noten. Dabei waren für die Studien gar keine Gemeinschaftsschüler getestet worden.

Ein morgendlicher Rundgang in der Waldparkschule. Der Unterricht beginnt in Gleitzeit bis halb neun, um das morgendliche Gedrängel in den Bussen zu entzerren. Aber sehr viele Schüler kommen schon um zehn vor acht. Sie schätzen die morgendliche Ruhe. Offene Türen, offene Räume. Schüler, die einander helfen, die selbständig Aufgaben erledigen. Kaum Frontalunterricht. In Klasse 6b döst Crumble, der Golden Retriever von Mathe-Lehrerin Katharina Sauer, ein ausgebildeter "Schulhund". Crumble mag keinen Lärm, der Lärmpegel ist gesunken, seitdem er am Unterricht teilnimmt. Crumble trägt ein Geschirr, daran befestigt Frau Sauer nun ein Täschchen, darin eine Rechenaufgabe. Crumble wählt den Schüler aus, der die Aufgabe an der Tafel lösen muss. Subtraktion, Frau Sauer hilft ein wenig nach. Hinterher darf der Schüler zur Belohnung den Hund mit einem Leckerli belohnen. Crumble kann nicht genug davon kriegen.

Die Gemeinschaftsschule, ein Ort der Beliebigkeit? Thilo Engelhardt hat während Crumbles Auftritt ein strenges Auge auf das Klassenzimmer. Jeder Schüler hat sein kleines Regal. In einem davon steht jetzt ein Ordner schief. Bitte in Ordnung bringen, mahnt der Rektor.

Es gibt mittlerweile 299 Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg. Sie versammeln sozusagen Hauptschule, Realschule und Gymnasium von Klasse fünf bis zehn unter einem Dach, im Ganztagsbetrieb, in gemeinsamen Klassen. Nicht alle Schüler lernen im gleichen Takt und auf dem gleichen Niveau, aber sie sollen alle voneinander profitieren beim Lernen. Statt Frontalunterricht: Erziehung zur Selbständigkeit.

"Mehr als Schule", steht auf einem Plakat in der Aula. Gelernt wird, weil man den Stoff wichtig nimmt, nicht der Noten wegen, lautet das Credo der Waldparkschule. Die Jugendlichen sollen fit gemacht werden für das Leben. Aber letztlich auch an Leistungen gemessen werden. Engelhardt ist überzeugt, dass seine Schule auf einem guten Weg ist. Aus der jetzigen 8. Klasse werde wohl eine Handvoll Schüler ans Gymnasium wechseln, in der 7. Klasse traut er bereits einem Drittel das Abitur zu.

Ja, sagt Engelhardt im Dienstzimmer, begleitet von Stellvertreter Mathias Peitz, nicht alle hätten das gleiche Talent für Freiheit und Selbstverantwortung. Erste Untersuchungen legen nahe, gute Schüler könnten vom selbständigen Lernen an Gemeinschaftsschulen profitieren, schlechtere dagegen zurückfallen. Engelhardt glaubt nicht daran, aber zweifellos komme dem "Coaching" entscheidende Bedeutung zu. Jeder Schüler hat seinen eigenen Coach, mit dem er in regelmäßigen Abständen seine Lernfortschritte diskutiert, vor allem aber: ob er fähig ist, sich selbst zu organisieren.

Es muss Ordnung herrschen im Lerntagebuch, im Regal, im Heft, vor allem im Kopf. Manche brauchen eine starke Hand und klare Regeln. Auch Bekleidungsregeln sollen helfen. An der Waldparkschule gilt: keine Jogginghosen, keine Kappen, Hoodie-Kapuzen unten. Wer so durchs Leben läuft, hat draußen keine Chance auf einen Job, sagt Engelhardt. Es dauere einige Zeit, solche Regeln durchzusetzen. Aber hinterher seien alle glücklich, auch die Eltern.

Der stellvertretende Schulleiter Peitz trägt an diesem Tag einen Trainingsanzug mit der Aufschrift "Mathias". Aber nur, weil er gleich eine Sportstunde geben werde.

Es muss Ordnung herrschen, vor allem im Kopf. Jeder Schüler hat seinen eigenen Coach

Selbstorganisation, das ist auch die Herausforderung für die rund 40 Lehrerinnen und Lehrer. "Eine neue Schulart im laufenden Betrieb zu implementieren, das ist wie eine OP am offenen Herzen", sagt er. Peitz hat Kolleginnen und Kollegen kommen und gehen gesehen. Manche kapitulierten vor dem Zeitaufwand, vor immer neuen Herausforderungen, dem ständigen Hinterfragen der eigenen Methoden, dem Alltagstrubel, der Enge. Nach wie vor fehlt der Schule eine Mensa, gegessen wird in umgebauten Klassenzimmern. Alle würden mit Leidenschaft arbeiten, sagt Peitz, "aber man muss aufpassen, dass man die Menschen nicht in den Burn-out treibt."

Der Boom der coolen Waldparkschule: Es werden immer mehr Schüler, 420 sind es mittlerweile. Immer mehr kommen "aus dem Tal", also aus den besseren Gegenden Heidelbergs. Anfangs waren es 13, mittlerweile sind es hundert. Der Migrationsanteil liegt bei 50 Prozent. Auch Kurdo ist im Übrigen präsent an der Schule, als Unterrichtsstoff. Denn der Rap, sagt Thilo Engelhardt, sei ja eine Form der Poesie.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3390001
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 27.02.2017/mkoh/cat
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.