Geisteswissenschaften:Die Dissertation selbst zählt kaum

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Es geht aber nicht nur um faire Berufsverhältnisse. Das eigentliche Dilemma, das aus dem prekären Ungleichgewicht zwischen Stellen- und Anwärterzahlen resultiert, ist, dass der enorme Konkurrenzdruck unter den Promovierenden zu einer fast schon wissenschaftsschädlichen Arbeitsweise führt. Wer heute eine akademische Karriere anstrebt, für den ist "genau das zu tun, worin sein tiefstes philosophisches Interesse liegt", wie Gabriel die Funktion der Promotion beschreibt, meist der falsche Weg. Statt sich auf die Dissertation zu konzentrieren, verbringen Doktoranden heute schon ihre Zeit auf Konferenzen und versuchen, sich frühzeitig in Zeitschriften zu profilieren.

Dies bedauert auch der Philosophie-Doktorand Guido Barbi, der in München und Berkeley studiert hat und nun an einer Dissertation über das Thema Technokratie arbeitet. "Für eine Uni-Karriere ist es entscheidend, in den bestmöglich platzierten internationalen Zeitschriften zu publizieren. Das Endprodukt Dissertation wird wenig gelesen und zählt als Einstellungskriterium kaum. Wichtiger sind quantitative Kriterien: Wie viele Artikel hat man geschrieben, wo sind sie erschienen, wie oft wurden sie zitiert?" Während der Promotion werde man, so Barbi, schrittweise vom kreativ denkenden Jungakademiker zu einer Publikationsmaschine umtrainiert.

Doch hat sich die Doktorarbeit als Monografie, an der über Jahre gedrechselt wird, nicht überholt? Sind kumulative Promotionen, in denen man eine Reihe von Aufsätzen anfertigt, nicht zeitgemäßer? Und ist es nicht sinnvoll, als Jungakademiker in Essays an aktuellen Debatten zu partizipieren? Auch Lukas Köhler, bis vor Kurzem Post-Doc an der Hochschule für Philosophie München und nun Mitglied des Bundestages für die FDP, sieht die Bedeutung schnellerer Debatten. Nur sähe das in Realität anders aus: "Wissenschaftlich gesehen ist das Veröffentlichen von Aufsätzen kontraproduktiv. Denn die Art und Weise, wie Paper heute zu schreiben sind, erlaubt kaum Neues. Im Prinzip werden in diesen Texten nur alte Gedanken reproduziert."

Ein Grund dafür ist die Gatekeeper-Position der wissenschaftlichen Zeitschriften. In dem ausdifferenzierten und nie ganz zu überblickenden Bereich der Philosophie soll Qualität mittels Peer-Review garantiert werden. Hierzu prüfen zwei oder drei Peer-Leader, renommierte Professoren des Fachs, ob das komplett anonymisierte Paper zu einer Publikation taugt.

Klingt erst einmal seriös. Doch das Vorgehen hat einen Haken. Es treibt die Diskurse nicht voran, sondern in die Breite. "Wenn die harte Währung für eine Unikarriere die Veröffentlichungen sowie gute Netzwerke sind, dann investiert man dafür die meiste Zeit. Und zwar effizienterweise, indem man sich dem Jargon anpasst", meint Köhler. "Das heißt, man schreibt wie alle anderen und über dieselben Themen; und man rezipiert natürlich die Topautoren, die die Peer-Review durchführen."

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