Gastkommentar:Mehr Gauß, weniger Goethe

Abakus

Illustration: Bernd Schifferdecker

Die mathematische Bildung in Deutschland ist völlig unzureichend für die vernetzte Welt von heute. Höchste Zeit für neue Formen des Unterrichts.

Von Christian Hesse

Die Mathematikschelte war kräftig und medienwirksam, denn sie kam von Mathematikern selbst und richtete sich gegen die Art, wie ihr Fach unterrichtet wird. Eine Gruppe von 130 Experten veröffentlichte am 17. März einen Brandbrief zur Krise des Mathematikunterrichts an Gymnasien. Der offene Brief beklagt, dass ein beachtlicher Teil der Studienanfänger an den Universitäten nicht mehr über die nötigen Grundkenntnisse verfüge, um ein WiMINT-Fach zu studieren, also Wirtschaft, Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften oder Technik. Die Lücken der Studienanfänger in Mathematik seien so groß, dass sie kaum mehr aufholbar seien, da es sich teils auch um Mittelstufenstoff handele.

Als Grund für die alarmierende Mathematik-Schwäche vieler Erstsemester sehen die Unterzeichner die Ausrichtung des mathematischen Unterrichts an den heutigen Bildungsstandards, die einen stärkeren Alltagsbezug des Unterrichts vorsehen. Die Autoren fordern, dass man an "Deutschlands Schulen wieder zu einer an fachlichen Inhalten orientierten Mathematikausbildung zurückkehren solle" und dass "symbolische, formale und technische Elemente der Mathematik und abstrakte Inhalte wieder stärker gewichtet werden."

Was ist von diesen Forderungen zu halten? Nicht viel. Es handelt sich um seltsam rückwärtsgewandte, altmodische Vorschläge, die den Erfordernissen des 21. Jahrhunderts nicht gerecht werden. Die Einführung der kritisierten Bildungsstandards war eine Reaktion auf die Pisa-Studie von 2000, in der die mathematische Kompetenz 15-jähriger Schüler international verglichen wurde. Das äußerst schlechte Abschneiden der deutschen Schüler löste den "Pisa-Schock" aus.

Studienanfänger müssen in Mathe nachsitzen

Für die Oberstufen-Mathematik setzen die Bildungsstandards den Schwerpunkt auf Kompetenzorientierung und weniger auf mathematisches Grundlagenwissen. Gut so. Kompetenzorientierung bedeutet, dass realitätsnahe Fragen mit mathematischen Methoden untersucht werden. Das soll verhindern, dass zu viele Schüler und deren Eltern bezüglich weiter Teile der abstrakten Mathematik die Sinnfrage stellen: "Wofür brauche ich das später im Leben?"

Die Maßnahmen können als Schritt in die richtige Richtung gewertet werden, zeigt doch die letztjährige Pisa-Studie, dass sich Deutschland im internationalen Vergleich in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten ordentlich verbessert hat.

Dennoch trifft es zu, dass seit einiger Zeit viele Studienanfänger mit schlechten Mathematik-Fähigkeiten und entsprechenden Schwierigkeiten an die Universitäten streben. Die Ursachen sind klar zu benennen: Im vergangenen Jahrzehnt hat die Zahl der Studienanfänger in Deutschland stark zugenommen. Derzeit nimmt etwa die Hälfte eines Altersjahrgangs ein Studium auf. Das bedeutet aber nicht, dass diese Studienanfänger alle auch ein klassisches Abitur besitzen. Bei nur etwa der Hälfte dieser Erstsemester ist das noch der Fall. Die angesprochene Mathematik-Malaise ist also nicht dem gymnasialen Unterricht anzulasten.

Schlecht in Mathe zu sein, gilt vielen als cool

Dennoch - und obwohl die Pisa-Studie von 2016 für deutsche Schüler bessere Ergebnisse zeigte als die von 2000 - darf man nicht den Schluss ziehen, dass der gymnasiale Unterricht nicht reformbedürftig sei. Das ist er immer noch.

Zur Begründung zunächst ein paar allgemeine Bemerkungen. Im Vergleich zu Frankreich, Skandinavien und anderen Ländern ist das gesellschaftliche Klima in Deutschland eher mathematik-feindlich. Nirgendwo sonst trifft man als Mathematiker so häufig auf Menschen, die mit ihrer Mathematikunkenntnis so unverhohlen kokettieren. Schlecht in Mathe zu sein, ist für manche cool.

Dabei ist Mathematik eine Schlüsselkompetenz des modernen Lebens. Mittlerweile gibt es mehr Zahlen als Wörter auf der Welt. Viele Vorgänge in Technik, Produktion, Wissenschaft und Wirtschaft werden von lawinenartigen Zahlenströmen begleitet. Wir stehen an der Schwelle zu einer Zeit, in der man mit nicht-quantitativen - zum Beispiel sprachlichen - Kompetenzen und, sagen wir, der Mathematik bis zum achten Schuljahr schon den ganz normalen Alltag nicht mehr hinreichend gut bewältigen kann. Dafür ist unsere moderne Welt schlicht zu komplex.

Wir brauchen deshalb dringend ein höheres Niveau an quantitativer Bildung. Wir brauchen stärker ausgeprägte und weiter verbreitete Fähigkeiten, mit Zahlen, Funktionen, Statistiken umzugehen, Wahrscheinlichkeiten einzuschätzen, Daten zu analysieren, Chancen und Risiken zu bewerten. Nicht zuletzt müssen wir lernen, mit geringen Informationen und wenig Zeit gute Entscheidungen zu treffen. Kurzum: Wir brauchen mehr Mathematik-Sachverstand in der Gesellschaft. Leicht überspitzt: Wir brauchen in den Schulen mehr Gauß und weniger Goethe. Wir brauchen mehr Daten-Kompetenz und weniger Dativ-Kompetenz.

Mathematik muss ohne Fächergrenzen unterrichtet werden

Doch um Mathematik-Kompetenz zu vermitteln, ist kein Mathematikunterricht nötig. Der mit den Bildungsstandards beschrittene Weg hin zu einer stärkeren Orientierung an alltagsnahen Problemen muss sogar noch weiter gedacht werden. Bis zu dem Punkt, wo Fächergrenzen verschwinden.

Es geht um die Abschaffung des Schubladendenkens: Im Mathematikunterricht sollte nicht nur Mathematik, im Physikunterricht nicht nur Physik vermittelt werden. Statt voneinander abgegrenzter Fächer sollte es in der Oberstufe Themenbereiche geben. Es sollte fächerübergreifend und projektbezogen unterrichtet werden. Für realitätsbezogene Fragen sollte das Thema im Sinnzusammenhang der Beiträge mehrerer Disziplinen gesamtheitlich behandelt werden. Das Thema "Big Data" etwa erfordert substanzielle Beiträge aus Mathematik, Wirtschaft, Technik, Medizin, Ethik.

Durch diese Modularisierung wird für die weniger mathematik-affinen Schüler das Fach an ihre Lebenswelt herangeführt. Die stärker mathematik-interessierten Schüler können Themen-Module zusätzlich wählen, die sich mit mathematischen Spezial-Projekten befassen. In einer zunehmend globalisierten und vernetzten Welt ist es wichtig, interdisziplinäre Zusammenhänge zu erkennen. Fachliches Grundlagenwissen muss natürlich auch weiterhin vermittelt werden, aber im Kontext mit anderen Fächern. Es kann erwartet werden, dass diese Veränderungen die Lernmotivation vieler Schüler gerade auch im Hinblick auf mathematische Lerninhalte steigern wird.

Christian Hesse, 56, ist Professor für Mathematische Statistik an der Universität Stuttgart.

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