Süddeutsche Zeitung

Fehlende Kinderbetreuung:Halbtagsschule + Vollzeitjob = Riesenproblem

Plätze an Ganztagsschulen sind rar. Mit zwei Milliarden Euro will der Bund des Ausbau unterstützen. Länder und Städte sagen: Das reicht nicht.

Von Edeltraud Rattenhuber

In vielen Kommunen ist noch nicht einmal das Recht auf einen Kitaplatz für alle verwirklicht, da soll schon der nächste Rechtsanspruch kommen: Am Mittwoch beschloss das Bundeskabinett, den Ländern zwei Milliarden Euro für den Ausbau der Ganztagsbetreuung an Schulen zur Verfügung zu stellen. Damit soll der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung von Grundschülern bis 2025 vorangetrieben werden, der im Koalitionsvertrag vereinbart ist. Doch Kommunen und Länder laufen Sturm gegen die Art, in der der Bund das Projekt realisieren will. Zwar wird der Bedarf an Ganztagsplätzen für Grundschüler durchaus gesehen. Aber vor allem die Kommunen fragen: Wer soll's bezahlen? So sagt Burkhard Jung (SPD), der Präsident des Deutschen Städtetags und OB von Leipzig, der Süddeutschen Zeitung: "Es reicht nicht, die Kosten bei den Kommunen abzuladen."

Nach Berechnungen des Deutschen Jugendinstituts (DJI) kostet das Projekt bis 2025 bis zu 7,5 Milliarden Euro - zumindest wenn man auch die Mittagsbetreuung mit einkalkuliert, also die Kosten für jene Kinder, die nur bis nach dem Mittagessen versorgt werden müssen und dann nach Hause gehen. Zusätzlich müssen laut DJI pro Jahr 4,5 Milliarden Euro an Betriebskosten eingeplant werden. Die Kommunen fühlen sich überfordert. Man leiste "bereits beim Ausbau der Kinderbetreuung für kleine Kinder Großes. Und auch dort steigt der Bedarf an neuen Plätzen weiter", sagt Städtetagspräsident Jung. Wollten Bund und Länder einen Rechtsanspruch für die Ganztagsbetreuung von Schulkindern beschließen, müssten sie auch einen wesentlich größeren Anteil an den Kosten übernehmen.

Doch auch die Länder zieren sich. So steht Baden-Württembergs Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) auf dem Standpunkt, dass der Bund einen Rechtsanspruch einführen wolle, der nicht finanziert sei. Bayerns Familienministerin Kerstin Schreyer (CSU) meint, wer bestellt, der solle auch bezahlen. Wie Eisenmann hält sie zwei Milliarden Euro vom Bund als einmalige Anschubfinanzierung für viel zu gering, "diese Summe wäre schon allein für Bayern nötig". Schleswig-Holsteins Familienminister Heiner Garg (FDP) droht gar mit einer Blockade des Projekts im Bundesrat.

Personalmangel immerhin soll kein Problem sein - vermutet der Chef des Jugendinstituts

Tatsächlich will der Bund die zwei Milliarden Euro vor allem als Investition in Räumlichkeiten an den 15 000 Grundschulen in Deutschland verstanden wissen. Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) hofft auf "mehr Chancengerechtigkeit für alle Kinder und eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf für die Eltern". Erstklässler stünden oft schon "um zwölf Uhr wieder vor der Haustür, mit leerem Magen, aber mit einem Ranzen voller unerledigter Hausaufgaben". Dass Eltern unter solchen Voraussetzungen einer geregelten Arbeit nachgingen, sei schlicht nicht möglich. Laut einer Erhebung des DJI wünschen sich mehr als 70 Prozent der Eltern einen Ganztagsplatz für ihre Grundschulkinder. Doch nicht einmal die Hälfte bekommt ihn. Dabei haben viele Eltern gar keine Wahl, sie wollen oder müssen arbeiten. Bis zum Eintritt in die Grundschule sind die Kinder meist versorgt durch den Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz. Doch mit der Einschulung stehen manche Eltern plötzlich wieder vor dem Nichts, vor allem Müttern droht die Teilzeitfalle, viele Alleinerziehende fallen zurück ins Hartz-IV-System und müssen aufstocken, weil sie nur noch Teilzeit arbeiten können.

Auch aus diesem Grund finden Grüne und Linke den Kabinettsbeschluss gut. Die bildungspolitische Sprecherin der Linken im Bundestag, Birke Bull-Bischoff, sprach von einem Schritt in die richtige Richtung. Ein gutes Ganztagsangebot helfe gerade Schülern "aus problembelasteten Familien mit wenig Geld und wenig Schulerfolg". Sowohl sie als auch die Grünen verlangen jedoch, dass die Betreuung auch qualitativen Ansprüchen genügen müsse. So forderte die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen, Katja Dörner, "eine hohe pädagogische Qualität, die über Mindeststandards verbindlich zu gewährleisten wäre".

Was das kostet

Von 2025 sollen alle Eltern, die das wünschen, für ihr Kind einen Ganztagsplatz in einer Grundschule finden. Das Bundesfamilienministerium nimmt an, dass etwa drei Viertel aller Familien von diesem Rechtsanspruch Gebrauch machen werden. Doch was soll das kosten?

Das Deutsche Jugendinstitut (DJI) hat kürzlich neue Berechnungen hierzu vorgelegt. Um für alle Grundschulkinder eine qualifizierte Ganztagsbetreuung zur Verfügung stellen zu können, müssten in den nächsten sechs Jahren etwa 820 000 neue Plätze geschaffen werden. Die Kosten für die Investitionen dafür belaufen sich auf 5,3 Milliarden Euro zwischen 2020 und 2025. Zusätzlich müssten Bund, Länder und Gemeinden jährlich 3,2 Milliarden Euro für den laufenden Betrieb von 2025 an ausgeben. Berücksichtigt man zudem die Mittagsbetreuung (für Kinder, die zum Beispiel um 14 Uhr nach Hause gehen), ist sogar mit Investitionskosten von 7,5 Milliarden Euro und 4,5 Milliarden Euro Betriebskosten pro Jahr zu rechnen. SZ

Die Umsetzung des Betreuungsanspruchs wird auch durch den eklatanten Mangel an Erziehern erschwert. Städtetagspräsident Jung gibt zu bedenken, dass es für einen umfassenden Rechtsanspruch im Jahr 2025 trotz aller Anstrengungen kaum gelingen werde, ausreichend Mitarbeiter mit der notwendigen pädagogischen Qualifikation zu finden. Und der Bau von all den zusätzlichen Räumen für Mittagessen, individuelle Förderung der Kinder und für Freizeitmöglichkeiten werde nur schrittweise möglich sein.

Thomas Rauschenbach, Direktor des DJI, jedoch ist optimistischer. Das Totschlagargument Personalmangel will er nicht gelten lassen. "In den vergangenen zehn Jahren konnten wir die Zahl der ausgebildeten Erzieher verdoppeln", sagt er. "Das Feld Kita wächst und wächst."

Rauschenbach sieht die zwei Milliarden Euro des Bundes als "gutes Signal". Der Bund mache sich so zum Fürsprecher für Kinder und Eltern. Das Feilschen um die Finanzierung nennt er das "übliche Ränkespiel", aus seiner Sicht müssten sich Eltern aber hier keine allzu großen Sorgen machen. Der Ausbau der Kinderbetreuung auch an den Grundschulen sei ein nationales Projekt, "das geht nur, wenn alle mitmachen" - und der Bund habe dafür vieles angestoßen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4682052
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 15.11.2019/berk
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.